Schöne neue Welt
Bekannter von mir aus der Moribundenklinik ruft mich da an«, sagte Helmholtz. »Der Wilde ist dort. Scheint verrückt geworden zu sein. Jedenfalls ist es dringend. Willst du mitkommen?«
Sie eilten über den Korridor zu den Aufzügen.
»Gefällt euch etwa euer Sklavendasein?« rief der Wilde gerade, als die Freunde die Moribundenklinik betraten. Sein Gesicht glühte, seine Augen brannten vor Eifer und Entrüstung. »Wollt ihr Babys bleiben? Ja, greinende und sabbernde Babys«, ergänzte er, bis zur Grobheit gereizt durch die viehische Blödigkeit derer, die zu retten er gekommen war. Die Schimpfworte prallten an dem dicken Schildkrötenpanzer ihrer Stumpfsinnigkeit ab; mit dem ausdruckslosen Blick dumpfen, finsteren Grolls starrten sie ihn an.
»Ja, sabbernde!« schrie er. Trauer und Reue, Mitleid und Pflicht, all das war jetzt vergessen, aufgesogen von tiefem, überwältigendem Haß gegen diese untermenschlichen Ungeheuer. »Wollt ihr nicht freie, wirkliche Menschen sein? Wißt ihr denn nicht einmal, was Menschsein und Freiheit sind?« Die Wut machte ihn beredsam, die Worte strömten ihm mühelos zu. »Nicht?« wiederholte er, aber er erhielt keine Antwort. »Nun denn«, fuhr er grimmig fort, »ich will's euch lehren, ich will euch befreien, ob ihr wollt oder nicht!« Mit diesen Worten riß er ein Fenster auf, das auf den inneren Hof ging, und begann, Händevoll Somaschachteln hinauszuwerfen.
Einen Augenblick lang war die Khakimenge stumm, von Staunen und Grauen über diesen mutwilligen Frevel wie versteinert.
»Er ist wahnsinnig« , flüsterte Sigmund mit weit aufgerissenen Augen. »Sie werden ihn umbringen. Sie werden -«
Ein lauter Schrei stieg plötzlich aus der Menge auf, die sich gleich einer drohenden Woge dem Wilden näher schob. »Ford helfe ihm!« Sigmund wandte den Blick ab.
»Hilf dir selbst, so hilft dir Ford!« Lachend, tatsächlich fröhlich lachend, drängte sich Helmholtz Ho lmes-Watson durch die Menge.
»Frei, frei!« brüllte der Wilde. Mit einer Hand warf er weiter Soma in den Hof, mit der anderen hieb er auf die ununterscheidbaren Gesichter seiner Bedränger ein.
»Frei!« Plötzlich stand Helmholtz ihm zur Seite - »Hurra, Helmholtz!« -, hieb gleichfalls drauflos - »Endlich Menschen sein!« - und warf dazwischen das Gift mit vollen Händen zum offenen Fenster hinaus. »Ja, Menschen! Menschen!« Nun war der Giftvorrat zu Ende. Er nahm die Schatulle und zeigte ihnen die schwarze Leere. »Ihr seid frei!«
Aufheulend stießen die Deltas mit doppelter Wut vor. Am Rande der Schlacht stand unschlüssig Sigmund.
»Sie sind verloren«, sagte er sich und eilte, von einem plötzlichen Impuls getrieben, den beiden zu Hilfe; doch überlegte er es sich und blieb stehen; beschämt lief er dann noch ein Stück auf sie zu, überlegte es sich neuerlich, und im demütigenden Widerstreit der Gefühle hielt er inne: vielleicht wurden sie wirklich umgebracht, wenn er ihnen nicht zu Hilfe kam, vielleicht wurde er umgebracht, wenn er ihnen half... In diesem Augenblick, Ford sei Dank!, stürmte, glotzäugig und schweinsschnäuzig, die Polizei mit aufgesetzten Gasmasken herein.
Sigmund stürzte ihnen entgegen. Er schwenkte die Arme; es war eine Tat, er tat etwas. Er schrie mehrma ls »Hilfe!«, immer lauter, um sich selbst einzureden, daß er Hilfe leiste. »Hilfe! Hilfe! Hilfe!«
Die Polizisten stießen ihn aus dem Weg und machten sich ans Werk. Drei Männer, die Spritzapparate auf den Rücken geschnallt, pumpten dichte Somadämpfe in die Luft. Zwei andere arbeiteten an einem tragbaren Synthetofon. Vier Polizisten, deren Wasserpistolen mit einer kräftigen Betäubungsflüssigkeit geladen waren, hatten sich in die Menge gezwängt und schössen wohlbedacht Ladung auf Ladung gegen die wütendsten Raufer.
»Rasch, rasch«, schrie Sigmund. »Sie werden umgebracht, wenn ihr euch nicht beeilt. Sie werden - oh!« Dieses Gekreisches überdrüssig, hatte ein Polizist mit der Spritzpistole auf ihn geschossen. Ein paar Sekunden schwankte Sigmund unsicher auf den Be inen, die plötzlich keine Knochen, Sehnen und Muskeln mehr zu haben schienen, sondern aus Gallert, zuletzt nicht einmal mehr daraus, aus Wasser bestanden, und brach, ein armseliges Häufchen, zusammen.
Und auf einmal begann aus dem Synthetofon eine Stimme zu sprechen. Die Stimme der Vernunft und der Eintracht. Auf dem Tonband lief die synthetische Aufruhrbeschwichtigung Nummer 2 (mittlere Stärke) ab. Unmittelbar aus der Tiefe eines nicht vorhandenen
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