Schöne neue Welt
vertreiben. »A, B, C, Vitamin D...« Er versuchte, an die Zeiten zu denken, als er auf ihren Knien saß, ihre Arme um seinen Nacken, während sie ihn in den Schlaf schaukelte und immer wieder sang: »A, B, C, Vitamin D, Vitamin D -«
Die Supervox-Orgel schwoll zu einem schluchzenden Crescendo an, und plötzlich wich das Verbena im Duftverteiler durchdringendem Patschuli. Filine regte sich, erwachte, starrte ein paar Sekunden verwirrt auf die Endrundenspieler, hob dann den Kopf, zog ein paarmal den neuen Duft ein und lächelte plötzlich ein Lächeln kindlichen Entzückens.
»Pope!« murmelte sie und schloß die Augen. »O wie gut, wie -« Seufzend ließ sie sich in die Kissen zurücksinken.
»Hör doch, Filine!« beschwor sie der Wilde. »Erkennst du mich denn nicht?« Er hatte sich so bemüht, hatte sein möglichstes getan - warum ließ sie ihn nicht vergessen? Er drückte fast grob ihre schlaffe Hand, als wollte er sie aus dem Traumreich unwürdiger Lüste, gemeiner, verhaßter Erinnerungen zurück in die Wirklichkeit des Augenblicks zwingen, in die grauenhafte Gegenwart, die erschütternde Wirklichkeit, der eben die Nähe dessen, was sie furchtbar machte, auch Erhabenheit, Bedeutsamkeit und beängstigende Einmaligkeit verlieh. »Erkennst du mich nicht, Filine?«
Er fühlte den schwachen, erwidernden Druck ihrer Hand. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er beugte sich über sie und küßte sie. Ihre Lippen bewegten sich. »Pope!« flüsterte sie wieder. Ihm war, als hätte man ihm einen Eimer Spülicht ins Gesicht geschüttet.
Zorn wallte plötzlich in ihm auf. Abermals enttäuscht, fand sein leidenschaftlicher Gram ein anderes Ventil, verwandelte sich in qualvolle Wut.
»Ich bin doch Michel!« rief er. »Michel!« Und in seinem rasenden Elend packte er sie an der Schulter und schüttelte sie.
Filines Lider flatterten, sie sah auf und erkannte ihn »Michel!« -, aber sie verlegte sein wirkliches Gesicht und seine wirklichen, heftigen Hände in ihre Traumwelt, verband sie mit ihren ganz eigenen Vorstellungen, die Patschuli und Superorgel in ihr weckten, mit ihren verklärten Erinnerungen und den eigenartig veränderten Gefühlen, die ihre Traumwelt bildeten. Sie erkannte ihn als Michel, ihren Sohn, hielt ihn für einen Eindringling in das paradiesische Malpais, wo sie mit Pope auf Somaferien war. Er war zornig, weil sie Pope liebte, er schüttelte sie, weil Pope bei ihr im Bett lag - als ob daran etwas Schlechtes wäre und nicht alle zivilisierten Menschen dasselbe täten! »Jeder ist seines Nächsten Eigentum...«Ihre Stimme erstarb plötzlich zu einem kaum hörbaren, atemlosen Krächzen, ihre Kinnlade fiel herab, sie machte eine verzweifelte Anstrengung, Luft in die Lungen einzuziehen. Aber es war, als hätte sie das Atmen verlernt. Sie wollte schreien - kein Laut kam über die Lippen, und nur das Grauen in ihren starrenden Augen verriet, was sie litt. Sie fuhr sich mit beiden Händen an die Kehle, krampfte sie in die Luft - die Luft, die sie nicht mehr atmen konnte, die für sie nicht mehr da war.
Der Wilde sprang auf, beugte sich über sie. »Was ist los, Filine? Was hast du?« rief er beschwörend, als bettelte er darum, beruhigt zu werden.
Sie antwortete ihm mit einem Blick voll von unsäglichem Grauen und, wie ihm schien, voll von Vorwurf, versuchte, sich im Bett aufzurichten, und fiel in die Kissen zurück. Ihre Züge waren gräßlich verzerrt, ihre Lippen blau.
Der Wilde wandte sich um und lief durch den Saal.
»Rasch, rasch!« schrie er. »Rasch doch!«
Die Oberpflegerin, mitten im Kreis der Zippsack spielenden Simultankinder, sah sich um. Ihr erstes Erstaunen wich fast sogleich höchster Mißbilligung. »Schreien Sie nicht so! Denken Sie an die Kinder!« sagte sie stirnrunzelnd. »Sie bringen ihre ganze Normung... Ja, was treiben Sie denn da?« Er hatte den Kreis durchbrochen. »Geben Sie doch acht!« Ein Kind kreischte.
»Rasch, rasch!« Er packte sie am Ärmel und zog sie hinter sich her. »Rasch! Es ist etwas geschehen. Ich habe sie getötet!«
Als sie das andere Saalende erreichten, war Filine schon tot.
Der Wilde stand einen Augenblick in versteinertem Schweigen, dann brach er neben dem Bett in die Knie, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte fassungslos.
Die Pflegerin stand unschlüssig, bald auf die kniende Gestalt am Bett blickend - ein skandalöser Auftritt! -, bald auf die Kinder, die armen Würmchen, die jetzt nicht mehr Zippsack spielten, sondern vom anderen Saalende,
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