Schöne neue Welt
Herzens sagte die Stimme pathetisch: »Meine Freunde, meine Freunde«, sagte das mit so unendlich zartem Vorwurf, daß selbst den Polizisten hinter ihren Gasmasken für eine Sekunde die Tränen in die Augen traten. »Was soll das alles?
Warum seid ihr nicht allesamt glücklich und gut miteinander? Glücklich und gut«, wiederholte die Stimme. »In Frieden, in Frieden.« Sie bebte, sank zu einem Flüstern herab und erstarb für einen Augenblick. »Oh, wie möchte ich euch so gerne glücklich sehen«, begann sie von neuem mit sehnsüchtig eindringlichem Ernst. »Wie gerne sähe ich euch gut! Ich bitte euch, ich bitte euch, seid gut und -«
Nach zwei Minuten hatten die Stimme und die Somadämpfe ihre Wirkung getan. Unter Tränen küßten und umarmten die Deltas einander, immer ein halbes Dutzend Simultangeschwister auf einmal in einer großen Umarmung.
Sogar Helmholtz und der Wilde waren den Tränen nahe.
Ein neuer Vorrat Pillenschachteln wurde aus der Somakammer gebracht, in aller Eile verteilt, und unter den überströmenden Segenswünschen der Stimme zerstreuten sich die herzzerbrechend schluchzenden Dutzendlinge.
»Lebt wohl, meine über alles geliebten Freunde, Ford sei mit euch! Lebt wohl, meine über alles geliebten Freunde, Ford sei mit euch! Lebt wohl, meine über alles -«
Als der letzte Delta verschwunden war, schaltete der Polizist den Strom ab. Die Engelsstimme schwieg.
»Wollen Sie gutwillig mitkommen«, fragte der Polizeisergeant, »oder müssen wir Sie betäuben?« Drohend wies er seine Spritzpistole vor.
»Ach, wir kommen gutwillig mit«, antwortete der Wilde und betupfte sich mit dem Taschentuch abwechselnd einen Riß in der Lippe, eine Schramme am Hals und einen Biß in der linken Hand.
Das Taschentuch noch immer an die blutende Nase gedrückt, nickte Helmholtz zustimmend.
Diesen Augenblick suchte sich Sigmund, wieder zu Bewußtsein und dem Gebrauch seiner Beine gelangt, dazu aus, sich möglichst unauffällig davonzumachen. »Heda, Sie!« rief der Sergeant, und eine Schweinsmaske eilte durch die Vorhalle und legte Sigmund die Hand auf die Schulter.
Sigmund wandte sich in entrüsteter Unschuld um.
Durchbrennen? Nicht im Traum hatte er daran gedacht.
»Und was Sie überhaupt ausgerechnet von mir wollen, kann ich mir nicht vorstellen«, sagte er zu dem Sergeanten.
»Sie sind mit den Verhafteten befreundet, nicht wahr?«
»Nun, ja...«, sagte Sigmund zögernd. Nein, es ließ sich einfach nicht leugnen. »Und warum auch nicht?« fragte er.
»Dann vorwärts!« befahl der Sergeant und eskortierte die drei durch das Tor zu dem wartenden Polizeiwagen.
Sechzehntes Kapitel
Die drei wurden in das Arbeitszimmer des Weltaufsichtsrats geführt.
»Seine Fordschaft wird gleich erscheinen.« Der Gammadiener ließ sie allein.
Helmholtz lachte laut.
»Das sieht ja eher nach einem Koffeinersatzkränzchen als nach einem Verhör aus«, sagte er und ließ sich in den üppigsten pneumatischen Sessel des Zimmers fallen.
»Kopf hoch, Sigmund!« rief er beim Anblick der grünlichen Jammermiene seines Freundes. Aber Sigmund ließ sich nicht aufheitern; wortlos, sogar ohne einen Blick auf Helmholtz, suchte er sich mit Vorbedacht den unbequemsten Stuhl aus, in der unbestimmten Hoffnung, dadurch irgendwie den Zorn der höheren Mächte zu besänftigen.
Unterdessen wanderte der Wilde rastlos durchs Zimmer, besah mit flüchtiger Neugier die Bücher auf den Regalen, die Tonbandrollen und die Lesemaschinenspulen in ihren bezifferten Fächern. Auf einem Tisch am Fenster lag ein dickes Buch, in mattschwarzen Lederersatz mit eingepreßten goldenen TS gebunden. Er nahm es zur Hand und schlug das Titelblatt auf. »Mein Leben und Werk. Von Ford dem Herrn.« Herausgegeben war es von der Gesellschaft zur Förderung Fordlichen Fortschritts in Detroit.
Müßig blätterte er, las eine Zeile hier, einen Absatz da und war gerade zu dem Schluß gekommen, daß das Buch ihn nicht interessierte, als sich die Tür öffnete und der Weltaufsichtsrat für Westeuropa elastischen Schrittes eintrat.
Mustafa Mannesmann schüttelte allen dreien die Hand, aber er richtete das Wort nur an den Wilden. »Also Ihnen gefällt unsere Zivilisation nicht besonders, Herr Wilder?« begann er.
Der Wilde sah ihn an. Er hatte sich vorgeno mmen zu lügen, Krach zu machen, verstockt zu schweigen; aber durch das wohlwollende, kluge Gesicht des Aufsichtsrats ermutigt, beschloß er, geradeheraus die Wahrheit zu sagen. »Nein!« Er schüttelte den
Weitere Kostenlose Bücher