Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jess Walter
Vom Netzwerk:
so schlimm, dass sie sich schon auf den Wild-Pitch-Freitag freut, den einzigen Tag im Monat, an dem sie noch die Chance hat, vielleicht zufällig die Idee zu einem Film zu hören. Leider rekrutiert sich der Aufmarsch an diesen Freitagen fast ausschließlich aus Michaels Vergangenheit: Menschen, die er bei den Anonymen Alkoholikern kennengelernt hat, Menschen, denen er oder die ihm einen Gefallen schulden, Menschen, die er im Club trifft, alte Golfpartner, alte Koksdealer, Frauen, mit denen er in den Sechzigern und Siebzigern geschlafen hat, Männer, mit denen er in den Achtzigern geschlafen hat, Freunde von Exfrauen und von seinen drei ehelichen oder von seinen drei älteren und nicht ganz so ehelichen Kindern, der Sohn seines Arztes, die Tochter seines Gärtners, der Sohn seines Poolpflegers, der Poolpfleger seiner Tochter.
    Zum Beispiel Claires Halbzehntermin: ein leberfleckiger Fernsehautor, der in den Reagan-Jahren mit Michael Squash gespielt hat und jetzt eine Reality- TV -Show über seine Enkel machen möchte, deren Bilder er stolz auf den Konferenztisch legt. »Süß«, sagt Claire, und »Oh« und »Wie niedlich« und: »Ja, ich finde auch, dass Autismus heute viel zu oft diagnostiziert wird.«
    Aber über solche Treffen darf sich Claire nicht beschweren, wenn sie nicht Michael Deanes Vortrag über Loyalität hören will: dass er in dieser kalten Stadt ein Mensch geblieben ist, der seine Freunde nicht vergisst, der sie fest an den Schultern packt und ihnen tief in die Augen blickt: Weißt du, ich habe deine Arbeit immer bewundert, ( NAME EINFÜGEN ). Schau doch einfach nächsten Freitag bei meiner Assistentin Claire vorbei. Dann nimmt Michael eine Visitenkarte, unterschreibt sie und gibt sie dem Betreffenden, der wie von Zauberhand auf einmal drinnen ist. Leute mit einer signierten Visitenkarte von Michael Deane sind vielleicht auf Premierentickets, die Nummer einer bestimmten Schauspielerin oder ein signiertes Filmplakat aus, doch die meisten von ihnen wollen das Gleiche wie alle anderen: die Chance auf einen Pitch.
    Pitchen ist hier gleichbedeutend mit leben. Die Leute pitchen ihre Sprösslinge an gute Schulen, pitchen Angebote für Häuser, die sie sich nicht leisten können, und wenn sie in den Armen der oder des Falschen erwischt werden, pitchen sie unglaubwürdige Ausreden. Krankenhäuser pitchen Geburtszentren, Tagesstätten pitchen Liebe, Highschools pitchen Erfolg … Autohändler pitchen Luxus, Berater Selbst achtung, Masseusen ein Happy End, Friedhöfe ewige Ruhe … Es ist endlos, dieses Pitchen – endlos, aufregend, seelenverzehrend und so unerbittlich wie der Tod. Und so gewöhnlich wie Sprinkleranlagen am Morgen.
    Eine signierte Visitenkarte von Michael Deane ist auf diesem Areal eine Art Währung, und zwar nach Claires Einschätzung je älter, desto besser. Als ihr Zehn-fünfzehn-Termin eine Karte aus Michaels Tagen als Studiomanager zückt, hofft sie auf einen Film-Pitch, doch der Mann hat nur einen Vorschlag für eine Realityshow im Gepäck, die so grauenhaft ist, dass sie sogar brillant sein könnte: » Paranoid Palace : Wir nehmen psychisch Kranken die Medikamente weg, stecken sie in ein Haus mit versteckten Kameras, und dann machen wir Spielchen mit ihnen; sie knipsen das Licht an, und plötzlich setzt Musik ein, sie machen den Kühlschrank auf, und auf einmal geht die Klospülung …«
    Und apropos Medikamente, ihr Halbzwölftermin hat seine anscheinend vergessen: Der Sohn von Michael Deanes Nachbarn stolziert in einem Cape und mit Kinnriemenbart herein und sieht ihr kein einziges Mal in die Augen, als er eine TV -Miniserie pitcht, die sich um eine nur in seinem Kopf existierende (»Wenn ich es aufschreibe, stiehlt es mir jemand«) Fantasy-Welt dreht. Die Serie soll den Titel Veraglim Tetra logie tragen, wobei Veraglim für ein Alternativuniversum in der achten Dimension steht und Tetralogie »wie eine Trilogie ist, bloß mit vier Geschichten statt mit drei«. Während er sich über die Gegebenheiten seiner Fantasy-Welt verbreitet – in Veraglim gibt es einen unsichtbaren König, eine permanente Zentaurenrevolution und Penisse, die nur eine Woche pro Jahr erigiert sind –, senkt Claire den Blick auf das summende Telefon in ihrem Schoß. Wenn sie noch etwas auf Zeichen gäbe, wäre dies ein gutes: Ihr karrierefauler, stripclubbegeisterter Klotz von einem Freund ist gerade aufgestanden – zwanzig Minuten vor Mittag – und hat ihr ein Wort ohne Satzzeichen gesimst: Milch. Sie malt sich

Weitere Kostenlose Bücher