Schoenhauser Allee
Alle begrüßen sich kollegial. Niels Bohr packt seine »Plus«-Markt-Tüte aus und holt vier Flaschen Korn sowie mehrere Dosen Bier hervor. Der Kongress kann beginnen. Von den anderen Wissenschaftlern kenne ich niemanden, nur Friedrich Engels mit seiner verlebten Braut, weil die beiden jeden Tag auf dieser Bank sitzen, egal wie das Wetter ist. Engels hat sich anscheinend vor kurzem den Bart abgeschnitten, aber nur die eine Seite, jetzt sieht er total schräg aus. Er hält seinen Bart in der Faust und erzählt Einstein irgendwas Lustiges. Leider kann ich ihn nicht verstehen. Vielleicht erzählt ihm Engels etwas über die Unvermeidlichkeit der neuen sozialen Revolution und der Notwendigkeit, die politische Macht zu ergreifen? Einstein schüttelt nur den Kopf – alles ist relativ: Ich kann seine Antwort von den Lippen ablesen. Niels Bohr nimmt einen großen Schluck aus der Flasche, dann gibt er sie der Braut von Engels, dann Einstein. Die Flasche ist schnell leer und landet unter der Bank. Engels mit dem schrägen Bart sieht heute irgendwie traurig aus. Ihm fehlt bestimmt sein Freund Marx. Den habe ich schon eine Ewigkeit hier nicht mehr gesehen. Früher saßen die beiden gerne zusammen auf dieser Bank und tranken einen auf die »Deutsche Ideologie«. Mit einem Schluck schaffte Marx die Hälfte, die andere war dann für Engels bestimmt.
Das nichts ahnende Publikum läuft an der Bank vorbei, das gemeine Volk interessiert sich so gut wie gar nicht für Relativitätstheorien, eher für Konsumtheorien. Junge Mütter mit Kinderwagen machen einen großen Bogen um die Bank. Sie wollen dadurch verhindern, dass ihre Kinder die Wissenschaftler kennen lernen. Werden sie aber trotzdem! Denn solange die Sonne scheint, wird der Kongress weiterlaufen – die Wissenschaft auf der Schönhauser Allee ist nämlich unsterblich, und darauf trinken wir einen.
Herbst der Spione
Alex, den Spion, habe ich auf dem Kollwitzplatz kennen gelernt. Er saß auf einer Bank, Sonnenbrille, offenes freundliches Gesicht und eine russische Zeitung in der Hand. Ich setzte mich neben ihn, um eine Zigarette zu rauchen. Alex holte ebenfalls eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und bat mich um Feuer. Er erkannte in mir den Landsmann und dadurch kamen wir schnell ins Gespräch. Er sei ein Spion, der die Fronten gewechselt habe und nun für die CIA schufte, erzählte er mir. Das war im Sommer 1993, ich hatte gerade eine neue Wohnung in der Schönhauser Allee bezogen und war den ganzen Tag mit der Reparatur einer aus allen Ecken stinkenden Duschkabine beschäftigt. Es war heiß, und draußen lärmten die Kinder. Die Pumpe und der Heizer funktionierten perfekt. Aber das Wasser aus der Dusche roch so widerlich, als hätte jemand in den Boiler geschissen. Das schien zwar technisch unmöglich, aber die wahre Kunst kennt keine Grenzen. Meinen Vormieter stellte ich mir nämlich als großen Künstler vor. Die ganze Gegend war von Künstlern bewohnt. Ich nahm die Duschkabine völlig auseinander, konnte aber die Ursache für den entsetzlichen Gestank trotzdem nicht beseitigen. So ging ich immer mal wieder rüber zum Kollwitzplatz, um frische Luft zu schnappen.
Als Alex mir erzählte, dass er ein ehemaliger russischer Agent sei, ein Überläufer, habe ich mich keine Sekunde darüber gewundert. Schon immer war der Kollwitzplatz ein Ort, der alle möglichen Spinner anzog. Einmal drohte mir einer, dass er gleich Selbstmord begehen würde, wenn ich ihm nicht sofort zehn Mark gäbe. Ein anderer wollte alle auf dem Platz mit seinen selbst gebackenen Keksen ernähren, die verdächtig nach Gift aussahen. Ein andermal erschien dieser Ein-Mann-Sekten-Anhänger mit einer Flasche voller rot-brauner Flüssigkeit in der Hand und zwang die Kinder auf dem Spielplatz, aus der Flasche zu trinken. Die Eltern bekamen entweder nichts davon mit oder hatten früher selbst schon mal aus der Flasche getrunken. Vielleicht hatten sie auch genau solche Flaschen in ihren Hosentaschen. Ein merkwürdiges Publikum.
Außerdem hatte ich zwei Wochen zuvor in Paris schon einen solchen Überläufer kennen gelernt. Da waren wir aber beide stockbesoffen gewesen. Der neue Pariser Trend – Tequila Bum-Bum – hatte uns ins Herz getroffen. In einer Kneipe waren wir auf ein hübsches Mädchen gestoßen, das wie ein Cowboy gekleidet war. In der linken Pistolentasche des Mädchens steckte eine Flasche Tequila, in der rechten eine Flasche Tonic. In den sich überkreuzenden Gürteln hatte sie dutzende kleiner
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