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Schoenhauser Allee

Titel: Schoenhauser Allee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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keine Spur geblieben. Jeder besäuft sich auf eigene Faust: Die Reichen mit den Reichen, die Armen mit den Armen. Keiner reicht dir mehr einen Becher rüber. Aber die Medien werden wieder eine Show daraus machen wie vor kurzem mit dem Lenin-Geburtstag am 22. April. Ein Subbotnik mit Prominenten wurde organisiert und das Lenin-Brett versteigert, auf dem der große Gründer der Kommunistischen Partei Russlands schwere Lasten trug und damit ein Beispiel für kompromisslosen Arbeitseinsatz geben wollte. Der Reichste durfte es dann bis zum Ende der Sendung auf seinen Schultern tragen. Auf einer Moskauer Straße wurde die finnische Lenin-Hütte im Maßstab 1:1 aufgebaut, die so genannte Schalasch, in der Lenin sein Werk
Staat und Revolution
schrieb. Nun konnte sich jeder in der Hütte einen Tisch reservieren und bei einem Bierchen ein neues Kapitel in das Buch Lenins einfügen.
    Die alten Reliquien werden vermarktet, die Helden zu Clowns degradiert, doch der Kanister meines Nachbarn und der entsetzliche Geschmack des russischen Portweins
Kaukasus rot
werden mich immer an diesem Tag begeistern.

Neulich in den »Schönhauser Arcaden«
    Das XXI. Jahrhundert ist gerade im Sonderangebot. Damit jeder davon ein Stück mit nach Hause nehmen kann, werden überall in Berlin neue gigantische Einkaufscenter gebaut. Dort lernen die Bürger den Konsumspaß der Zukunft. Diese neuen Kaufhäuser sind die Vorboten des kommenden Paradieses. Mit immer größer werdenden Unterhaltungsprogrammen, Erlebnisrestaurants, Kosmetikstudios, Kinderspielplätzen und Swimmingpools, mit einem Wort: alles für alle und eine Kleinigkeit kostenlos dazu für jeden. Das Flaggschiff vom Prenzlauer Berg heißt »Schönhauser Arcaden«. Dort könnten einige tausend Menschen hundert Jahre leben und nichts würde ihnen fehlen. Eigentlich leben dort bereits sehr viele, jedenfalls sieht man immer dieselben Gesichter.
    Neulich hatte man auf allen drei Stockwerken Hobelbänke aufgestellt. An jeder Hobelbank stand ein wie ein Tischler aussehender Mann mit einem Hobel in der Hand. Auf darüber hängenden Plakaten stand: »So baue ich mir ein eigenes Zuhause«. Zwischen den Hobelbänken befanden sich lauter einsatzbereite Computer mit kostenlosen Internetzugängen. Dazu Plakate: »In der virtuellen Welt gibt es Arbeitsplätze für alle«... Diese Veranstaltung war vom Arbeitsamt-Nord organisiert worden, das – immer auf der Jagd nach Arbeitslosen – die »Schönhauser Arcaden« entdeckt hatte. Ein Volltreffer. Denn wer geht um 12.00 Uhr einkaufen? Wer isst um diese Zeit ein Kabeljaufilet mit Knoblauchsauce? Wer hockt dort so früh schon mit einem Bier in der Hand? Natürlich Leute, die sonst nichts zu tun haben. Die Milleniumsmenschen. Sofort integrierte sich das Arbeitsamt in das Unterhaltungsprogramm des Einkaufscenters, zwischen singenden ABM-Cowboys aus Köpenick und dem Lambadaseniorenverein »Tanzender Oktober«.
    Ich war auf dem Weg zum Telekom-Shop »T-Punkt« und musste mich dazu durch eine Reihe von Kosmetiksesseln schlängeln, an denen Arbeitsamtsleute mit dem Spruch »Wir machen Ihnen ein neues Gesicht für Ihr Bewerbungsgespräch« allen, die es wünschten, ein tolles Make-up anboten. Den »T-Punkt« besuchte ich bereits zum dritten Mal wegen einer phantastischen Telefonrechnung in Höhe von 530,– DM. Die freundliche Mitarbeiterin dort sagte, als sie mich sah, wie immer: »Entschuldigen Sie mich eine Sekunde«, und verschwand im hinteren Zimmer. Zwanzig Minuten lang hörte ich von dort nur schrecklichstes Husten und Würgen. Neugierig wagte ich mich hinter den Tresen und lugte um die Ecke. Das Zimmer war das absolute Gegenteil des Ladenraums: dunkel, schmutzig und kalt, überall lagen aufgerissene Kartons herum. Die Frau war nirgendwo zu sehen, man hörte sie nur keuchen. Ich verließ den »T-Punkt« und fuhr die Rolltreppe runter, um bei »Kaiser's« einzukaufen. Dort sorgte neuerdings Pro Sieben für die Unterhaltung. Die beiden Unternehmen hatten anscheinend fusioniert. »Es wird heute ein langer Fernsehabend werden, liebe Kunden«, verspricht eine freundliche Stimme aus dem Lautsprecher, »ein langer, langer Fernsehabend. Und Sie, liebe Kunden, haben Sie sich schon etwas zum Naschen besorgt? Zum Lutschen und Knabbern und Kauen? Bei uns sind gerade Salzstangen in der Kilopackung im Sonderangebot. Für 0,99 DM, beziehungsweise 0,51 Euro.«
    Nach und nach kommen auch die Arbeitsamtsleute. Sie haben inzwischen ihre Tische zusammengeklappt, ihre Computer

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