Schoenhauser Allee
schaute, saß Alex vor einem großen Spiegel und führte ein intensives Gespräch mit einem unsichtbaren Partner. »Ich muss meine Gesichtsmuskeln trainieren«, erklärte er mir. Ich wünschte ihm viel Glück und störte nicht weiter. Am nächsten Tag, bei der Vorstellung, lief alles glatt. Die CIA nahm Alex endgültig unter ihre Fittiche. Abends feierten wir das. Ich erlaubte mir einen Toast: »Spione aller Länder vereinigt euch«, rief ich. Alex lächelte milde. Einen Monat später wurde in den USA ein gewisser Lenz enttarnt, ein hohes Tier im Verwaltungsapparat der CIA. Der Mann war jahrelang ein russischer Agent gewesen. Zu Hause bei Lenz fanden die Beamten eine Diskette mit Alex' Namen drauf. Sie wussten jedoch nicht, ob der Agent die Informationen auf dieser Diskette schon nach Moskau verfrachtet hatte. Sie konnten deswegen einen Racheakt nicht ausschließen. Über Nacht wurde Alex samt seiner Laptops aus meiner Wohnung nach München evakuiert, in eine geschlossene Ami-Siedlung, wo bereits seine Frau und sein Kind auf ihn warteten. Ich verlor einen tollen Untermieter. Später besuchte ich ihn in München und lernte seine Familie kennen. Alex wohnte in einem richtigen Haus mit Garten. Wir saßen auf der Veranda und tranken Bier. Im Garten liefen echte Igel herum. Alex machte sich Sorgen wegen seines Vaters, dem General, sonst ging es ihm gut. Zwei Monate später flogen sie nach Kalifornien. Einmal bekam ich eine E-Mail von ihm, darin erzählte er mir, dass mit dem Geheimdienst Schluss sei und er jetzt bei Microsoft arbeite.
Der Erste Mai auf der Schönhauser Allee
Ich stehe auf dem Balkon, gieße Sorka, unsere Raubpflanze, die meine Frau aus dem Nordkaukasus mitgebracht hat, und beobachte die Straße unten. Still ist heute die Schönhauser Allee, ruhig und menschenleer. Und das an so einem besonderen Tag! Denn heute ist 1. Mai, der Tag der Solidarität der Arbeiterklasse.
Bei uns in Russland war der 1. Mai früher ein einmaliger Feiertag – der einzige Tag im Jahr, an dem jeder Mensch ganz gesetzlich schon ab 11.00 Uhr morgens saufen durfte. Alle hatten an dem Tag frei, nur die Spirituosengeschäfte verkauften Wodka und Portwein bis zum Abwinken. Gleich am frühen Morgen standen auf jeder Straße kleine Gruppen festlich gekleideter Menschen mit Taschen und Paketen in der Hand, die einander den ersten Becher reichten. Die Solidarität der Arbeiterklasse zeichnete sich an dem Tag auch dadurch aus, dass man selbst aus fremden Händen immer einen Schluck bekam. Mein Nachbar beispielsweise, ein arbeitsloser Alkoholiker, schaffte es mit einem einzigen Satz –»Hallo Männer, frohes Fest, schiebt mal die Pulle rüber«– den ganzen Tag umsonst zu saufen und noch Vorräte für die Woche danach anzulegen. Letzteres erreichte er mit einem anderen Spruch: »Mein Freund hält hier um die Ecke das Transparent, kann nicht kommen, gebt mir auch für ihn einen Schluck, ich bringe es ihm.« Mit diesem Schluck füllte er dann einen um die Ecke stehenden Benzinkanister. Aus allen Straßen quollen die Moskauer in mehr oder weniger geschlossenen Reihen zur großen Hauptdemonstration, die im Zentrum der Stadt brummte. Doch viele blieben an der einen oder anderen Ecke hängen oder wechselten gar die Richtung und gingen in den Park für Kultur und Erholung »Maxim Gorkij«. Die Miliz ließ sie an diesem Tag in Ruhe und zeigte sogar eine gewisse Solidarität, machte ein Auge zu, die Miliz. Selbst diejenigen, die am Ende des Feiertages auf der Straße liegen blieben, wurden nicht gleich in die Ausnüchterungszelle abtransportiert. Nach zwei solchen Abtransporten erwartete den Arbeiter nach altem sowjetischen Arbeitsrecht die fristlose Kündigung, und so was durfte am 1. Mai nicht passieren. Es war eben ein besonders freier Tag.
Heute werden die alten Traditionen verachtet und verlacht. Wie viele andere Feste ist auch dieses in Russland umbenannt worden. Nun heißt es ganz unpolitisch »Der Tag des Frühlings und der Arbeit«. Natürlich wird auch heute am 1. Mai gesoffen, aber nur so vor sich hin: sinnlos.
In vielen Regionen, wie zum Beispiel in Südrussland, werden überhaupt keine Demonstrationen mehr organisiert. Die Menschen wollen dort weder feiern noch protestieren. Die große Demo in Moskau gibt es auch nicht mehr. Nur die alten Damen von der KPRF werden wieder mal mit den roten Fahnen winken und die Transparente für »Sozialistisches Russland und Altersfürsorge« hoch halten. Von der Solidarität der Arbeiterklasse ist
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