Schottische Ballade
war er ihr bis kurz vor Tarbert entgegengekommen, so begierig war er gewesen, sie zu sehen. Er wäre sogar bis an ihre Haustür gekommen, hätte sie es ihm erlaubt, doch da sie den Zorn der Mutter fürchtete, hatte Rowena darauf bestanden, ihn im Geheimen zu treffen.
Die Vorbereitungen für seine Reise nach Frankreich, zu der er in zwei Wochen aufbrechen sollte, mussten ihn aufgehalten haben.
Könnte ihre Enthüllung seine Pläne zunichte machen?
Sie schwankte in ihrem Glauben an ihn, doch dann rief sie sich Lions Ausdruck ins Gedächtnis, als er sie geküsst hatte, seinen Mund mit dem betörenden Lächeln, seine bernsteinfarbenen Augen, in denen die Liebe leuchtete. Lion, ihr Lion mit der schwarzen Mähne, würde sie nicht fallen lassen. Er würde seine Eltern überreden, einer Heirat zuzustimmen. Er würde sie mit sich nach Frankreich nehmen. Auch wenn der Hof dort prächtiger und reicher wäre als in Kinduin selbst, an Lions Seite wäre sie tapfer genug, vor den fremden Adeligen zu bestehen. Sie wollte sich samtene Kleider nähen, wie sie auch Lady Elspeth, Lions Mutter, trug. Rowena wollte selbst ihr blondes wildes Haar bändigen und unter einer steifen Haube verstecken, wie sie bei den hohen Frauen Mode war. Sie wollte so hart arbeiten, um eine Dame zu werden, deren Lion sich nicht schämen musste.
Ihr Lion. Stark und tapfer, von wildem Temperament, schnell von Zorn erfasst, noch schneller verzeihend. Und so zärtlich und sanft mit ihr. Die Erinnerung daran belebte ihre Sinne. Er liebte sie.
Rowena zog die Chamarre fester um sich und richtete ihren Blick auf den Pfad. Eine Stunde verging. Und noch eine. Sie ließ die Schultern hängen. Vier Stunden wartete sie nun schon. Bald würde die Nacht hereinbrechen. Wenn sie nicht bald losginge, müsste sie bei Dunkelheit nach Hause reiten.
Als die Sonne langsam hinter den majestätischen Bergen versank, band Rowena ihr Pony los und saß auf. Sie fühlte sich schwach und steif wie eine alte Frau, geschunden und geschlagen. Nun, sie sollte bald genug Schläge erhalten, wenn ihre Mutter herausfand, dass sie einen Bastard unter ihrem Herzen trug.
Als sie die Holzpforte von Tarbert erreichte, war es bereits völlig dunkel. Der zahnlose Will reckte sich über die Mauer und blickte auf sie herab.
„Du kommst aber spät, Mädchen.“
„Ja.“ Ihre Füße schienen zu Eisklumpen erstarrt, als sie im Hof vom Pferd stieg. In der Dunkelheit schien Tarbert Tower finster und abweisend. Durch die schmalen Pfeilschlitze der Großen Halle schimmerte Licht. Die Leute waren beim abendlichen Mahl versammelt. Rowenas Magen knurrte, doch sie konnte ihnen jetzt nicht unter die Augen treten. Schnell schlüpfte sie durch die Küche und über die Hintertreppe in ihre kleine Kammer.
Zitternd entkleidete sie sich im Dunkeln und kroch unter die klamme Decke. Nun erst ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sie weinte, wie sie es schon Jahre nicht mehr getan hatte. Erschöpft schlief sie ein, um beim ersten Morgengrauen wieder zu erwachen.
Was sollte sie bloß tun? Sie entwarf und verwarf ein gutes Dutzend Pläne. Nur eines machte Sinn. Sie musste nach Kinduin reiten und mit Lion sprechen. Erst dann konnte sie eine Entscheidung treffen.
Obgleich es bereits Sommer war, war es eisig kalt in der kleinen Kammer, als sie sich wusch und ihr bestes Festtagsgewand anlegte. Sie bürstete ihre langen Flechten und zwang sie in geordnete Zöpfe. Ihre Hände zitterten, als sie die Zöpfe um den Kopf feststeckte, wie sie es bei den feinen Damen gesehen hatte. Sie besaß nur ein einziges Schmuckstück, eine Nadel in Form eines Schwanes, die sie von ihrem Vater in ihrem dreizehnten Lebensjahr erhalten hatte. Sie befestigte damit ihre Chamarre und schlich sich aus der Kammer.
Niemand außer ihr war bereits auf den Beinen, als sie ihr Pony sattelte. Der Wache am Tor erzählte sie, dass sie einen Botengang im Dorf zu erledigen habe. Die fünf Meilen bis nach Kinduin vergingen zu schnell und doch zu langsam, denn alles in ihr war verkrampft, ihre Sinne waren bis aufs Äußerste gespannt. Angst hatte sie übermannt, als sie die Tore von Kinduin erreicht hatte. Ihre Stimme klang zittrig, als sie der Wache im Torhaus ihren Namen nannte. Nach schier endlos langem Warten öffnete sich die schmale Pforte in der Zugbrücke, und ein Soldat im dunklen Tartan der Sutherlands trat auf sie zu.
„Was willst du?“ fragte er schroff.
„I...ich wollte L...Lion Sutherland sehen.“
„Bist du allein?“ Er blickte sich
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