Schrei Aus Der Ferne
– und tätschelten mir die Hand und begannen, über etwas anderes zu sprechen.«
Sie schluckte, als hätte sie einen trockenen Mund.
»Es wurde so schlimm, dass ich anfing, mit Leuten im Bus zu reden, mit vollkommen Fremden. Damals … glaubte ich wirklich, ich würde verrückt werden. Und dann erzählte Simon mir, dass er im Internet auf diese Selbsthilfegruppe gestoßen sei – für Familien, die ihre Kinder verloren haben. In der Hauptsache durch Unfälle oder Krankheiten. Er fand es einfacher, nicht direkt darüber sprechen zu müssen, sondern E-Mails zu schicken. Hin und her, die ganze Zeit. Er wollte, dass ich mich daran beteiligte, was ich auch gemacht habe. Es hat geholfen, jedenfalls eine Zeitlang. Zu wissen, dass es viele andere gibt, die das Gleiche durchmachen, hat mir geholfen. Dann hat mir jemand aus dieser Gruppe eine Therapie vorgeschlagen und den Kontakt zu einem Therapeuten hergestellt. Das war wirklich gut. Es hat mir unglaublich geholfen. Ich begann mich wieder wie … wie eine normale Person zu fühlen. Ich meine, die Trauer über das, was geschehen war, war immer noch da, ich habe immer noch getrauert, natürlich, jeden Tag, aber das erschien nun beinahe normal. Als würde ich jetzt mit meinem Leben weitermachen können. Ich habe versucht, Simon dazu zu bringen, zu demselben Therapeuten zu gehen, aber inzwischen war er mit noch ein paar anderen Gruppen in Kontakt getreten – er saß die ganze Zeit vor dem Computer, jede Minute, die er nicht arbeiten musste – und sagte, er brauche keinerlei Therapie, weil er auf diese Weise alle erdenkliche Hilfe bekomme. Aber es war zu einer Art Obsession geworden. Wir sahen uns kaum noch. Wir nahmen überhaupt keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr ein. Wir sprachen nicht einmal miteinander. Er blieb die halbe Nacht auf und kam erst um drei oder sogar vier ins Bett, und dann ging er dazu über, im Gästezimmer neben dem verflixten Computer zu schlafen. Die Tatsache, dass er nicht genug Schlaf bekam und kaum etwas aß, hatte negative Auswirkungen auf ihn, das war deutlich sichtbar. Es wirktesich auch auf seine Arbeit aus. Ich glaube, er hat mindestens eine Abmahnung bekommen. Als ich ihn schließlich verließ, hat er es wohl kaum bemerkt. Diese ganze Geschichte hatte ihn völlig vereinnahmt. Als ich ihn in Cambridge getroffen habe, sah er wirklich schrecklich aus, wirklich krank …«
»Wir werden mit ihm reden«, sagte Will. »Mit Simon. Wenn er in der Gegend lebt, sollte es nicht allzu schwer sein, ihn zu finden.«
»Sie glauben doch nicht …?«
Er lächelte vorsichtig. »Ich weiß es nicht.«
»Unser Freund Lyle«, sagte Ruth, »Anita hat gesagt, dass Sie mit ihm gesprochen haben. Konnte er Ihnen denn weiterhelfen?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Er hätte es bestimmt getan, wenn er gekonnt hätte.«
Als er gegangen war, rührte Ruth sich nicht von der Stelle, gefangen in ihren eigenen Gedanken.
Ist sie nicht süß?
Gleichgültig, wie unglücklich, wie krank er war, Simon konnte doch bestimmt nichts mit Beatrices Verschwinden zu tun haben?
Sie saß ganz allein da und bohrte ihre Finger in die weiche Haut an ihren Augen, wie um blind zu werden für das, wovor sie Angst hatte, was sie nicht sehen wollte.
57
Als Helen aufwachte, wusste sie nicht gleich, wo sie war. Die Antwort lieferte ein kurzer Blick auf die geblümten Vorhänge, den Wasserkocher auf der Kommode, die Teebeutel und Tütchen mit Pulverkaffee daneben. Dazu der heisere Schrei der Möwen.
Wie hatte Cordon gesagt? Sauber und ruhig? Nun, das war es gewiss. Die Wirtin hatte sie mit einer Tasse Tee, zwei Garibaldi-Keksen und der Ermahnung begrüßt, dass sie in ihrem Zimmer nicht rauchen dürfe. Ein wirklich abwegiger Gedanke.
Helen hatte den Rest des vergangenen Tages damit verbracht, die Notizen zu lesen, in denen die Untersuchung des Todes von Heather Pierce zusammengefasst wurde, wobei Cordon ihr über die Schulter geschaut und nicht allzu erfolgreich versucht hatte, mit seiner eigenen Meinung hinterm Berg zu halten. Schließlich hatte sie ihn gefragt, ob er nicht etwas anderes, Sinnvolleres zu tun hätte, woraufhin er ihr mitgeteilt hatte, er würde sie am nächsten Morgen um neun in ihrem Hotel abholen, und verschwunden war.
Soweit Helen das beurteilen konnte, schien die Ermittlung völlig ordnungsgemäß durchgeführt worden zu sein. Der einzige ernsthafte Schnitzer war, dass die Leiche des Mädchens bei der eigentlichen Suche nicht gefunden worden
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