Schrei Aus Der Ferne
war.
Oder ein scheinbarer Schnitzer.
Denn Cordons Zweifel waren ja erst durch die Möglichkeit entstanden, dass die Leiche nicht dort gewesen war, als die erste Suche stattfand. Wenn Heather gleich am Abendihres Verschwindens in den Schacht des Maschinenhauses gestürzt war, bedeutete das, dass man ihre Leiche übersehen hatte; wenn die Leiche später dorthin gebracht worden war, stellte sich die Frage: Wie und von wem? Und wo sie in der Zwischenzeit gewesen war.
Was Cordon und in geringerem Ausmaß den Untersuchungsrichter betraf, handelte es sich um Fragen, auf die es bislang noch keine befriedigenden Antworten gab. Für die leitenden Beamten damals war die Antwort einfach gewesen: Die erste Suche war unzulänglich gewesen und die Leiche war einfach nicht gefunden worden.
Sorglosigkeit. Unerfahrenheit. Kein Verbrechen.
Helen las die Aussage von Francis Gibbens, dem Mann, der das zweite Mädchen, Kelly, gefunden – und gerettet – hatte. Und das, was Kellys Vater zu Protokoll gegeben hatte. Alan Efford. Beide waren Zeugen, dachte sie, mit denen sie gerne selbst sprechen würde. Aber inzwischen merkte sie, dass ihr die Augen zufielen, und sie wusste, dass sie nicht mehr auf dem Weg zum Erfolg war.
Da es keine Minibar in ihrem Zimmer gab, hatte sie auf dem Rückweg eine halbe Flasche Scotch gekauft und war nach einem schnellen Schlummertrunk innerhalb von Minuten eingeschlafen.
Am Morgen zog sie eine Jeans an, nicht ihre beste, dazu robuste Stiefel, einen grau melierten Pullover und einen übergroßen grünen Anorak, eine Hinterlassenschaft aus einer früheren kurzlebigen Beziehung.
»Also, Mädels«, wie sie gerne zu ihren Freundinnen sagte, »wenn ein Mann zu der ersten Verabredung in Wanderstiefeln aufkreuzt, wisst ihr, dass er nicht lange bleiben wird.«
Cordon wartete draußen, leise lief der Motor des Wagens mit Allradantrieb.
»Sie sind entsprechend gekleidet, wie ich sehe«, sagte er.
»Was haben Sie erwartet? Hohe Hacken?«
»Ist schon vorgekommen.«
Das Innere des Wagens roch nach Hund und etwas Feuchtem, das sie nicht zuordnen konnte. Nach wenigen Minuten hatten sie die Stadt hinter sich gelassen und überquerten die Halbinsel auf einer Straße, die zu flachen Feldern und Moorland hinaufführte.
»Also, was meinen Sie?«, fragte Cordon.
»Ich kann verstehen, warum Sie Bedenken hatten.«
»Bedenken? Der hat doch null Peilung, der sture Bock – so hat es mein Chef ausgedrückt. Oder so ähnlich.«
»Manche würden das als Kompliment auffassen.«
Cordon grinste.
Kurz vor St Just bog er nach links auf eine schmalere kurvenreiche Straße ab, die schließlich in einen matschigen Weg überging. Ein paar hundert Meter weiter brachte Cordon das Fahrzeug direkt vor einem Gatter zum Stehen.
»Von hier aus gehen wir zu Fuß.«
Sie überquerten zwei Felder und standen dann auf einem flachen Felsvorsprung hoch über dem Küstenpfad. Unter ihnen wuchs Heidekraut, eine Farbenpracht in Violett und Rostrot, durch die hier und da der zerklüftete Granit ragte. Über ihnen war der Himmel von einem so strahlenden und klaren Blau, dass Helens Augen wehtaten; vor ihnen lag, so weit man sehen konnte, das Meer.
»Es ist schön«, sagte sie. »Ich wusste nicht, wie schön es ist.«
Cordon grunzte zufrieden, kletterte nach unten und schritt aus, ohne sich die Mühe zu machen, zurückzusehen oder ihr die Hand zu reichen. Helen versuchte zu klettern und geriet ins Rutschen, sprang dann und folgte ihm. Wenigstens wurde sie nicht bevormundet.
Die Silhouette des Maschinenhauses zeichnete sich scharfumrissen ab; mit dem hohen Schornstein sah es wie die Ruine einer Kirche aus, die hoch oben am Klippenrand thronte.
Fast da, dachte Helen, aber es täuschte, denn steil ging es nach unten zum Bett eines Baches, wo sich das Land etwas ebnete. Der Pfad stieg noch mehrere Male an und fiel dann wieder ab, und jeder Anstieg war steiler als der vorherige, sodass sie mehrmals stehen blieb und Atem holte. Ihre Wadenmuskeln fingen an, sich zu verspannen und wehzutun.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Cordon, als sie sich auf einer Kuppe nach vorne beugte, die Arme auf die Hüften legte und schwer atmete. »Wie wär’s mit einer Zigarettenpause?«
Helen richtete sich auf, warf ihm einen vernichtenden Blick zu und schob sich an ihm vorbei. Cordon lachte und folgte ihr.
Als sie endlich beim Maschinenhaus ankamen, hatten sich weiße Wolkenstreifen über den Himmel gelegt. Trotz der Herbstsonne fühlte sich das Mauerwerk
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