Schrei Aus Der Ferne
in eine Einbahnstraße reinfahren, ohne dass es jemand merkt.«
»Schöner Gedanke«, sagte Will. »Leider haben sie ihn als Stufe zwei klassifiziert. Das Risiko ist nicht hoch genug. Ein paar Monate in einem Wohnheim, ein paar nette Plaudereien mit seiner Bewährungshelferin. Er bleibt sauber, erzählt ihnen, was sie hören wollen, und wenn sie sich dann die Hände reiben, kann er vom Radar verschwinden.«
»Eins ist mir nicht klar«, sagte Helen.
»Was?«
»Warum es so an dir nagt. Seit diesem Fall hat es andere gegeben, ähnliche. Zu viele, ganz gewiss. Aber warum geht dir dieser so unter die Haut?«
»Ich weiß es nicht. Die Angst in den Augen des Mädchens, als ich sie das erste Mal sah? Roberts, als wir ihn befragt haben? Wie er dastand, wie der Schweiß an ihm runterlief und wie er uns die Hucke vollgelogen hat. Das anzügliche kleine Lächeln. Als ob er in Erinnerungen geschwelgt hat.«
»Wir haben ihn nicht mehr in der Hand, Will. Wir können nichts tun.«
Will sah zu ihr auf und sagte nichts.
Er nahm sich Zeit. Stürmte nicht einfach los. Fand sogar eine Möglichkeit, mit Roberts’ Bewährungshelferin zu reden, nichts Offizielles, keine große Sache, nur so. Offenbar war Roberts ordentlich und pünktlich zu ihrem ersten Gespräch erschienen: keine Probleme mit seiner Unterkunft, alles bestens, er wollte unbedingt Arbeit finden und Geld verdienen für die Zeit, wenn er sich selbst etwas mieten konnte. Es gab einen Mann, der sich früher schon bereit erklärt hatte, Strafentlassene zu nehmen, und vielleicht konnte man ihn wieder dazu bewegen. Dieser Mann hatte eine Tankstelle und eine Werkstatt für Reifen- und Auspuff-Schnelldienst. Sogar mehr als eine. Und nach allem, was man hörte, kannte sich Roberts mit den meisten Fahrzeugen bestens aus. Konnte zupacken.
Vom Auto aus, das ein Stückchen weiter unten an der Straße geparkt war, beobachtete Will ihn: Mitchell Roberts in einer formlosen Cargohose und einem dunklen Pullover, Arbeitsstiefel an den Füßen. Sein blondes Haar war so kurz geschnitten, dass er im scharfen Licht des Vormittags fast kahl erschien.
Ein freier Mann, der mit einer zusammengerollten Zeitung in der Hand einen kleinen Spaziergang machte, sich in seinem eigenen Tempo wieder einlebte, der sich freute, in die Welt zurückgekehrt zu sein.
Will behielt ihn im Blick, und als er meinte, die Entfernung zwischen ihnen reiche aus, stieg er aus dem Wagen, schloss ab und nahm die Verfolgung auf.
Roberts beeilte sich nicht, und sein Weg führte ihn über zwei Hauptstraßen und eine lebhafte Kreuzung, dann an dem neuen Museum für Technikgeschichte vorbei. Inzwischen meinte Will zu wissen, wohin er wollte: Stourbridge Common, eine ausgedehnte Grünfläche am Cam.
Er sah, dass Roberts eine Bank auswählte, sich mit demRücken zum Wasser hinsetzte, die Zeitung aufschlug und zu lesen begann.
Mehrere Radfahrer fuhren in Abständen auf dem Radweg an ihm vorbei, aber Roberts sah nicht einmal auf; dann kam ein Grüppchen von Arbeitern aus der Mittagspause zurück; sie wollten in eine der kleinen Fabriken ganz in der Nähe; ein paar halbwüchsige Jungen, die offensichtlich die Schule schwänzten, begannen am anderen Ende der Grünflache Fußball zu spielen; ein weißhaariges Paar in Trainingsjacken und weißen Shorts kam auf dem Weg zu den Tennisplätzen ganz nah an ihm vorbei.
Roberts zündete sich eine Zigarette an.
Die Zeit verging.
Ein junge Frau kam vorbei. Sie schob einen Kinderwagen, in dem das Baby schlief, ein Kleinkind trippelte langsam hinterher.
Aus einer der Taschen seiner Cargohose nahm Roberts ein Taschenbuch, schlug es auf und las wieder.
Es dauerte fast vierzig Minuten, bis die ersten Kinder aus der nächsten Grundschule auftauchten, die Brücke über den Fluss überquerten und dann den Weg nahmen, der in Richtung Newmarket Road führte. Vier, fünf Jungen, neun oder zehn Jahre alt, schoben und zogen einander, stritten und schrien aus Leibeskräften und waren völlig mit sich selbst beschäftigt. Zwei Mädchen mit Schultaschen folgten. Jede hörte mit einem einzelnen Kopfhörer die Musik aus dem MP 3-Player , den die größere der beiden in der Hand hielt. Dann ein paar Eltern mit Kindern; die Frauen tratschten, die Kinder trödelten hinterher, lachten, hänselten sich.
Jetzt war Roberts hellwach. Zwar lag das Buch noch geöffnet auf seinem Schoß, aber seine Augen waren überall.
Will beobachtete die Szene. Ein blondes Mädchen, das einen violetten Anorak, eine
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