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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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sich seine Augen an das schwächere Licht gewöhnen konnten. Der Innenraum war kühl und in Schatten gehüllt: nicht leicht, die schmächtige Gestalt auszumachen, die in Decken gewickelt auf dem schmalen Bett lag.
    »Da ist sie«, sagte Gibbens stolz. »Da ist mein Mädchen.«
    Mein Mädchen
, dachte Cordon. Interessant.
    Das Innere des Raums nahm langsam Gestalt an. Eine Tischplatte auf Böcken, zwei Stühle, Teekisten, in denen Kleider und Gott weiß was aufbewahrt wurden. Strandgut. Krempel. Gasflaschen. Mehrere kleine Holzschnitzereien an den Wänden. Ein Krug Wasser, das aus dem Fass neben der Eingangstür stammte.
    Cordon beugte sich tief über das Mädchen, sprach stumm ein Gebet, was er nur selten tat, und berührte mit seinem Mittelfinger ihre linke Schläfe, die blasse, fast durchsichtige Haut an der Seite ihres Kopfes. Sobald er in den Raum getreten war und sie dort fest umwickelt hatte liegen sehen, war er davon ausgegangen, dass sie tot war.
    War es also Wirklichkeit oder Einbildung, das schwache Pulsieren an seiner Fingerspitze?
    Er beugte sich tiefer, hielt sein Gesicht vor ihres und spürte den Hauch eines Atems an seiner Wange.
    »Den Hubschrauber der Küstenwache«, bellte er, als er sich aufrichtete. »Sofort. Und alarmiert das Krankenhaus. Macht schon.«
    Als die Beamten eiligst nach draußen verschwanden und nach ihren Handys griffen, wanderte Cordons Blick von Gibbens zu dem Mädchen und wieder zurück.
    »Es gibt kein Netz«, sagte Gibbens. »Nicht hier unten. Sie müssen die Klippe rauf bis zu der Stelle, wo Ihr Wagen steht.«
    »Da ist noch ein Mädchen«, sagte Cordon. »Sie ist auch in dem verdammten Nebel verschwunden. Wissen Sie, wo sie ist?«
    Gibbens nickte und zeigte auf die Tür. »Da draußen«, sagte er mit einem nervösen Lachen. »Da draußen.«
    Da draußen hieß: unermesslich weit und still und in gewisser Hinsicht unbekannt.

14
     
    Kelly lag im Krankenhaus, war in Sicherheit, wenn auch stark dehydriert und schwach. Sie wurde sorgfältig untersucht und überwacht, während die Suche nach Heather weiterging. Dem Hubschrauber der Küstenwache hatte sich ein weiterer vom Marinefliegerstützpunkt in Culdrose zugesellt. Unterstützt von Freiwilligenteams durchkämmte die Polizei das Land zu beiden Seiten des Küstenpfads zwischen Cape Cornwall und Sennen Cove. Auch etliche Mitglieder des örtlichen Höhlenforscherclubs waren hinzugezogen worden, um im Umkreis des Gebiets, wo Kelly gefunden worden war, bei der Suche in den alten Minenschächten zu helfen.
    Eine Beamtin war beauftragt worden, die beiden Familien zu betreuen   – Ann Dyer, eine junge Polizistin mit einer Zusatzausbildung in Krisenintervention. Sie war groß, schlank, zuversichtlich, hatte ein bestimmtes, aber höfliches Auftreten. »Wenn die Pierces wieder anrufen«, sagte sie zu Alan Efford, »lassen Sie mich mit ihnen sprechen. Sie haben genug zu bewältigen, so wie die Dinge liegen.«
    Als Ruth vom Vorplatz einer Tankstelle bei Bodmin anrief, übergab er Ann Dyer wortlos das Handy.
    »Es hat sich durchaus etwas getan«, sagte Dyer, »aber es tut mir leid, sagen zu müssen, dass Ihre Tochter Heather zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch vermisst ist. Wir tun alles in unserer Macht Stehende.«
    »Es hat sich etwas getan? Ich verstehe das nicht.«
    »Vielleicht ist es einfacher zu erklären, wenn Sie hier sind. Kommen Sie direkt zum Campingplatz?«
    »Natürlich.«
    »Brauchen Sie eine Wegbeschreibung oder   …?«
    »Nein, nein, das geht in Ordnung.« Noch bevor sie nach Frankreich aufgebrochen waren, hatte Ruth eine Karte der Gegend gekauft, weil sie genau wissen wollte, wo ihre Tochter sich aufhalten würde.
    »Gut. Dann treffen wir uns dort.«
    »Aber hören Sie   …«
    Die Verbindung war schon unterbrochen.
     
    Es war nicht mehr weit, sechzig Meilen vielleicht, aber auf der Landstraße   – hinter Penzance war sie eng und kurvig   – brauchten sie noch gut anderthalb Stunden. Simon, dessen Geduld bereits überstrapaziert war, saß am Steuer, nahm die Kurven zu schnell und fluchte leise.
    Alan Efford war unterdessen mit Lee und Tina zum Campingplatz zurückgekehrt und hatte Pauline und das Baby im Krankenhaus zurückgelassen. In regelmäßigen Abständen brach Tina ohne ersichtlichen Grund in Tränen aus; Lee machte weiterhin eine finstere Miene und sagte wenig oder nichts. Kettenrauchend rannte Efford auf und ab.
    Als er sah, dass sich der Wagen näherte, blieb er stehen und schob eine Hand durch sein

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