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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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gekauft. Von ihrem Taschengeld. Sie fand sie   – sie fand sie einfach schön.«
    Jetzt waren die Tränen nicht mehr zurückzuhalten, beide Frauen weinten, und Simon kam schnell von der Ecke des Feldes gelaufen, wo er gestanden und Ausschau gehalten hatte. »Was? Was ist los? Was ist passiert?«
    Dyer steckte den Umschlag in ihre Tasche und griff nach ihrem Telefon.

15
     
    Alan Efford hatte Cordon auf die Seite gezogen. Der Gedanke hatte an ihm genagt, seit seine Tochter auf einer Tragbahre in den Hubschrauber gezogen worden war, um ins Krankenhaus gebracht zu werden, seit Ann Dyer die Umstände erläutert hatte, unter denen sie gefunden worden war: Sie hatte die Tatsachen in sachlichem Tonfall geschildert, wie sie ihr bekannt waren, und jedem Wort gleiches Gewicht gegeben. Erst dies und dann das.
    Abgesehen von den struppigen Bartstoppeln war Effords Gesicht blass, als er Cordon ansprach.
    »Verdammt noch mal, ich muss es wissen.«
    »Was denn?«
    »Was Sie mir nicht sagen.«
    »Und das wäre?«
    Cordon hätte es in Effords Augen lesen können, aber er wusste es bereits. Die Gedanken und Ängste eines Vaters. War er nicht selbst einmal Vater gewesen? Er war es immer noch, obwohl es selten genug zutage trat. Eine gelegentliche Postkarte, ein vereinzelter schuldbewusster Anruf, bei dem die Stimme seines Sohnes so fern und so schwankend klang wie etwas, das vom Wind oder von der Flut vor sich hergetrieben wird. Kleine Brocken, für die Cordon dankbar sein musste. Wäre es besser, wenn da überhaupt nichts mehr wäre?
    »Er hat sie nicht angerührt«, sagte Cordon.
    »Er hat ihr die Sachen ausgezogen, hat sie nackt ausgezogen. Natürlich hat er sie angerührt, verdammt noch mal.«
    »Nicht so, wie Sie meinen.«
    »Nicht so, wie ich meine? So ein Scheiß   …«
    »Ihre Kleidung war durchnässt. Sie war durch und durch nass. Unterkühlt. Ohne ihn wäre sie vielleicht gestorben.«
    »Er   …«
    »Er hat getan, was er tun musste. Seien Sie dankbar dafür.«
    Ende des Gesprächs. Cordon drehte sich blitzschnell weg. Er hatte den Arzt, der sie untersucht hatte, gefragt und war beruhigt worden: keine Anzeichen sexueller Betätigung, weder aktuell noch zurückliegend, keine Spuren von Speichel oder Sperma.
    Ich hab sie mit ’nem Tuch gewaschen, ganz vorsichtig

    Es setzte ihm trotzdem zu: Steckte mehr hinter Gibbens, als es den Anschein hatte? Ein Mann, der sich für ein Einsiedlerleben entschieden hatte, so weit das möglich war, dessen Bedürfnis nach Gesellschaft praktisch gleich null war. Ein paar Ziegen, streunende Katzen, das Rauschen des Meeres.
    Cordon fand, dass es kein so schlechtes Leben war: in gewisser Hinsicht nur eine extremere Version seines eigenen. Sein Beruf ging unter die Haut und hinterließ eine Abneigung gegen die Menschen.
    Ein vorläufiges Durchforschen der Akten vor Ort hatte nichts ergeben, und Cordon konnte auch nicht den Finger darauf legen, wieso er Gibbens’ Namen gekannt hatte.
    Im Laufe des Tages wurde der rosa-blaue Rucksack gefunden, der sich in wucherndem Adlerfarn verfangen hatte. Die Fundstelle war nicht weit von Gibbens’ Hütte entfernt, nur ein Stückchen weiter auf der Klippe. Beide Badeanzüge befanden sich noch darin, Handtücher, zwei Schwimmbrillen.
    Immer noch keine Spur von dem zweiten Mädchen: Mit jeder Stunde wurde es unwahrscheinlicher, dass man sie lebend finden würde. Das wusste Cordon.
     
    Heathers Eltern waren in St Just untergekommen, der nächsten Stadt, die ein paar Meilen landeinwärts lag. Es gab mehrere Pubs, und in einem von ihnen hatten sie ein Zimmer gefunden; vom Fenster aus sah man auf das Kriegerdenkmal und den kleinen zentralen Platz. Gestreifte Tapeten und schwere Vorhänge, Teebeutel und Tütchen mit Instantkaffee, Kekse in Zellophan, ein Wasserkocher aus Plastik, aus dem heißer Dampf entwich und den man besser nicht anfasste, ein kleiner Fernseher mit so gut wie keinem Empfang.
    Ruth hatte sich hingesetzt und alles andere ausgeblendet. Tonlos sagte sie immer wieder Heathers Namen, starrte auf das Telefon und wartete darauf, dass es klingelte.
    Simon hatte gefragt, ob er sich einem der offiziellen Suchtrupps anschließen dürfe, war aber zurückgewiesen worden: Lassen Sie uns unsere Arbeit tun, Sir, das ist am besten. Als eine Art versöhnlicher Geste war einer der Beamten mit ihnen auf dem Küstenpfad in die Richtung gelaufen, in die die Mädchen gegangen waren, und sie hatten eine Weile auf die kleine Rundung der Bucht hinabgestarrt, die

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