Schrei Aus Der Ferne
wir keinen Grund, das nicht zu tun.«
»Aber die Mädchen waren doch zusammen?«
»Es sieht ganz so aus, als wären sie im Nebel getrennt worden.«
»Sagt Kelly das?«, fragte Ruth.
»Wir haben leider noch nicht richtig mit ihr sprechen können. Nicht eingehend. Sie ist noch zu schwach.«
»Und dieser Kerl«, warf Simon ein, »der Kelly gefunden hat. Gibt es da irgendwas …?«
»Wir befragen ihn derzeit. Vergewissern uns, dass uns nichts entgangen ist.«
Gibbens hielt mit der Hartnäckigkeit der von Natur aus Ehrlichen oder Einfältigen an seiner Geschichte fest. Er war lange nach Einbruch der Dunkelheit hinausgegangen; eine der Ziegen hatte das Seil durchgebissen, mit dem er sie nachts anband, und hatte mit dem Kopf gegen die Tür gestoßen. Als er das Tier wieder festband, hörte er einen schwachen Laut, eine Art Miauen, das von weiter oben auf der Klippe kam, und glaubte, eine der Katzen, die er am Haus hielt und fütterte,hätte sich irgendwo verfangen. Er kletterte hinauf und entdeckte, dass es sich nicht um eine Katze handelte, sondern um ein Mädchen, das beinahe bewusstlos im Adlerfarn lag. Sie war von einem höher gelegenen Pfad heruntergefallen – war möglicherweise über den Stacheldraht gestolpert – und an die Stelle gerollt, wo er sie fand. Vorsichtig hatte er sie aufgehoben – sie wog so gut wie nichts – und nach unten in die Hütte getragen.
Ihre Kleider waren völlig durchnässt gewesen, das T-Shirt zerfetzt, im Gesicht und an den Händen hatte sie Blut. Sie hatte auch blutige Schnitte an den Beinen, ganz unten und hoch oben auf der Hüfte.
»Sie haben sie ausgezogen?«, fragte Cordon.
»Ja, natürlich.«
»Ganz?«
»Ich hab doch schon gesagt, dass ihre Sachen total nass waren. Völlig durchweicht. Sie hätte sich sonst den Tod geholt.«
»Sie haben sie in Decken gewickelt?
»Ja, nachdem ich sie gewaschen habe.«
»Gewaschen?«
»Sie hatte geblutet, hab ich doch schon gesagt. Ich hab sie mit ’nem Tuch gewaschen, ganz vorsichtig, und sie dann ins Bett gelegt. Hab auch versucht, ihr was zu trinken zu geben, Wasser oder Milch, aber nein, sie wollte nicht. Hat es gleich wieder ausgespuckt.«
»Warum haben Sie nicht sofort Hilfe geholt?«
»Ich konnte sie doch nicht allein zurücklassen. Also hab ich bis zum Morgen gewartet, bis ich wusste, wie’s ihr geht. Ob sie überhaupt weggebracht werden kann. Da hab ich Hilfe geholt.«
»Aber warum die Rettungsstation? Warum sind Sie nicht in eine Telefonzelle und haben die Polizei angerufen?«
Gibbens zuckte die Achseln. »Gibt kein’ Grund.« Zum ersten Mal, seit die Vernehmung begonnen hatte, sah er weg.
»Sie hatten schon mal Schwierigkeiten, ist es das? Früher?«
»Hab ich jetzt Schwierigkeiten?«
»Ich weiß es nicht. Haben Sie welche?« Cordon lehnte sich zurück.
»Nein.«
Ein Polizeiwagen brachte Pauline Efford aus Penzance zurück und sollte nun ihren Mann ins Krankenhaus bringen. Bevor er ging, machte Alan Efford einen Schritt auf Ruth zu, als wolle er etwas sagen, aber dann überlegte er es sich anders. Als sich jedoch Pauline mit der kleinen Alice auf der Hüfte dem Zelt näherte, ging Ruth impulsiv auf sie zu und umarmte sie.
»Wie geht es Kelly?«
»Gut. Unter den Umständen. Sie behalten sie zur Sicherheit über Nacht da. Zur Beobachtung, wissen Sie, aber trotzdem, sie wird sich erholen.«
Ruth drückte Paulines Hand. »Das freut mich so.«
»Danke«, sagte Pauline und begann zu weinen. »Ihre Heather – sie finden sie auch bald. Ganz bestimmt.«
»Ja. Ja, vermutlich haben Sie recht.«
Ruth drückte Paulines Hand noch einmal kurz und wandte sich ab.
Ein Polizist im Overall kam zielstrebig über das Feld, und Ann Dyer ging los, um ihn abzufangen. Sie wechselten leise und schnell ein paar Worte.
Als Dyer zu Ruth zurückkam, hielt sie einen kleinen Umschlag aus Plastik in der Hand.
»Kommt Ihnen das bekannt vor?«, fragte sie.
In dem Umschlag lag eine goldene Kette mit den Buchstaben HEATHER in der Mitte. Der Verschluss war zerbrochen,und an den Gliedern der Kette klebte hier und da dunkler Schlamm.
Ruth starrte sie gebannt an.
»Erkennen Sie sie?«, fragte Dyer noch einmal.
Ruth schüttelte den Kopf. »Nein. Tut mir leid, nein. Ich habe sie noch nie gesehen.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja, natürlich.«
»Sie gehört nicht Heather? Ihrer Tochter?«
»Nein.«
»Doch«, sagte Pauline Efford leise. »Es ist ihre Kette.«
»Aber wieso …?«
»Sie hat sie in Penzance
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