Schrei Aus Der Ferne
frisch aus der Reinigung gekommen, und eine kleine Silberbrosche in Form einer Blume auf dem Revers. Hautfarbene Feinstrumpfhosen, schwarze Schuhe mit niedrigem Absatz. Ein akkurater Bubikopf, zwei Ringe, Ehe- und Verlobungsring, geschmackvolles Make-up.
Sie hielt Will Graysons Hand nur einen Augenblick – schmale Finger, lang und kalt. Sie hatten sich in der Nähe der Bausparkasse verabredet, in der sie arbeitete.
»Vielen Dank, dass Sie mit mir sprechen«, sagte Will.
Janine lächelte: das gleiche höfliche und professionelle Lächeln, mit dem sie fünfzigmal am Tag Kunden bedachte.
»Möchten Sie ein Stück laufen oder suchen wir uns einen Platz, wo wir uns hinsetzen können?«
»Mir ist alles recht.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Ich habe nur nicht sehr viel Zeit.«
Auf dem Markplatz fanden sie eine Bank vor der Kirche. Hier war es windgeschützt und Will öffnete seine Jacke; Janines Kostümjacke allerdings blieb zugeknöpft.
»Sie lehnen es vermutlich ab, sich daran erinnern zu müssen, was passiert ist«, sagte Will.
»Nein, das ist in Ordnung.«
»Wenn ich nicht überzeugt wäre, dass es wichtig sein …«
»Wirklich, es ist in Ordnung.« Ihre Worte klangen knapp und scharf, sie sah nach vorn und mied seinen Blick.
»Ich habe natürlich gelesen, was Sie damals ausgesagt haben. Jetzt habe ich mich gefragt, was für ein Bild Sie inzwischen von dem Mann haben, der Sie entführt hat …?«
Ihr Lächeln war noch flüchtiger als vorher. »Ich denke sehr selten daran, muss ich sagen. Diese ganze Geschichte – das ist so lange her. Es ist, als wäre sie jemand anderem passiert.«
Will nahm die Fotografien aus dem Umschlag und legte sie auf die Bank.
»Erkennen Sie diesen Mann?«
Bildete er es sich nur ein oder verspannte sich ihr Körper?
Sie hob eines der Bilder mit schön manikürten Händen auf und hielt es vor sich. »Sie glauben, er könnte es gewesen sein? Der Mann, der … der mich entführt hat?«
»Ja, es ist möglich.«
Er sah genau hin, um festzustellen, ob ihre Hände zitterten, aber ihr Griff blieb fest.
»Nein. Nein, ich erkenne ihn absolut nicht. Tut mir leid.«
»Diese Fotos wurden natürlich ein paar Jahre später aufgenommen. Das heißt, er ist älter.«
Sie schüttelte den Kopf und legte die Fotografie wieder hin. »Tut mir leid.«
Will sagte nicht sofort etwas, bewegte sich auch nicht.
»Zeigen Sie mir die Bilder, weil dieser Mann etwas Ähnliches getan hat?«
»Ja.«
»Auch ein Mädchen?«
»Ja.«
»Jung?«
»Zwölf Jahre alt.«
Sie wandte das Gesicht ab.
»Ich glaube, es hat noch andere gegeben«, sagte Will. »Und ich glaube, wenn er in Freiheit bleibt, könnten es noch mehr werden.«
Sie sah schnell noch einmal nach unten auf die Fotografien und drehte sie dann eine nach der anderen auf der Bank um.»Ich muss jetzt zurück.« Sie stand auf und strich ihren Rock glatt.
Nach einem weiteren Moment des Zögerns ließ Will die Fotos verschwinden.
»Ich laufe das Stück mit Ihnen, wenn es Ihnen recht ist?«
Inzwischen waren eine Menge Menschen unterwegs: Leute, die zum Einkaufen gekommen waren und jetzt etwas essen wollten, andere, die sich in ihrer Mittagspause Kaffee und ein Sandwich oder etwas in der Art geholt hatten, was sie im Gehen verzehrten. Zwei junge Frauen, die ihre Buggys vor sich her schoben.
»Wie alt ist Ihre kleine Tochter jetzt?«, sagte Will.
»Lassen Sie das!« Sie blieb auf der Stelle stehen und drehte sich jäh zu ihm um. »Tun Sie das nicht. Wagen Sie es nicht!«
»Was denn?«, fragte Will arglos.
»Sie benutzen mein Kind. Um mir Schuldgefühle zu machen. Damit ich Ihnen sage, was Sie hören wollen.«
»Es tut mir leid«, sagte er schockiert. »Ich bitte um Entschuldigung.«
Sie gingen schweigend weiter, bis sie fast vor dem Gebäude standen, in dem sie arbeitete. Im Fenster war eine vergrößerte Farbfotografie zu sehen, auf der die perfekte Familie abgebildet war: Mutter, Vater und zwei Kinder, die vor ihrem wunderschönen neuen Zuhause standen und verzückt lächelten.
»Danke«, sagte Will und streckte die Hand aus. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
Sie nahm seine Hand nicht, sondern wandte sich blitzschnell ab und drückte auf den Summer, um eingelassen zu werden.
Die Strecke von Huntingdon nach Chatteris Fen war nicht länger als zwölf Meilen; die Straße schlängelte sich zwischenKiesgruben nach Norden, wurde vorübergehend gerade, bevor sie in engen Kurven anstieg und einen Blick
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