Schrei Aus Der Ferne
fast noch ein Welpe, und als Janine die Hand durch das offene Fenster streckte, hatte der Hund sie abgeleckt. Als der Mann dann sagte: »Warum steigst du nicht ein, wir nehmen dich bis zur Kreuzung mit, ich und Ezra«, hatte Janine zugestimmt, ohne groß zu überlegen.
»So ist sie«, sagte ihre Mutter später. »Wenn irgendwo Tiere im Spiel sind, besonders Hunde, geht alle Vernunft bei ihr flöten.«
An der Kreuzung hatte der Mann nicht angehalten und sie rausgelassen, sondern war scharf abgebogen und in der entgegengesetzten Richtung weitergefahren.
Janines Schreien hatte ihr nichts genützt.
Irgendwo hielten sie bei zwei Häuschen an, von denen eines einzustürzen schien. Der Mann schob Janine in einen Raum und warf ihr einen Eimer hinterher, bevor er die Tür abschloss. »Mach da drin dein Geschäft.«
Später in der Nacht kam er zu ihr. Er roch nach Alkohol.
Etwas später kam er noch einmal zurück und dann wieder am nächsten Tag.
Es gab Haferbrei zu essen, klumpig und halb kalt, und Wasser zum Trinken und Waschen. Ein Fetzen von einem zerrissenen Handtuch zum Abtrocknen. Ein paarmal glaubte sie, eine andere Stimme zu hören, die eines zweiten Mannes, obwohl sie sich nicht ganz sicher war. Von Zeit zu Zeit winselte der Hund und kratzte an die Außenseite ihrer Tür.
Am Morgen des dritten Tages wurden ihr die Augen verbunden, sie wurde in den Transporter verfrachtet und etwa vierzig Minuten durch die Gegend gefahren – nicht so lange, wie eine Schulstunde dauerte – und dann mit immer noch verbundenen Augen aus dem Laderaum geworfen und zurückgelassen.
Von dort aus war sie zu dem Bauernhof gelaufen.
Der Mann, so erzählte sie der Polizistin, die sie befragte, war nicht besonders groß – »blondes Haar, kein dunkles, blonder als meins« – und trug alte Arbeitskleidung, die stank, aber wonach, konnte sie nicht sagen. »Nicht jung. Eher alt. Aber kein Großvater. Schätzungsweise so alt wie mein Dad.« Er hatte keinen richtigen Bart, sagte sie, war aber unrasiert gewesen; sein Gesicht hatte an ihrer Haut gekratzt.
»Klang er so, als käme er aus der Gegend?«, fragte die Polizistin.
Janine glaubte, er käme von hier.
Sie konnte ihn anhand von Fotografien nicht identifizieren; ein Versuch, mithilfe eines Polizeizeichners ein Phantombild zu erstellen, scheiterte und wurde aufgegeben. Zwei Männer wurden verhaftet und später ohne Anklage freigelassen; Janine hatte bei einer Gegenüberstellung keinen von beiden erkennen können.
Die Ermittlung wurde nicht abgeschlossen, der Fall blieb ungeklärt.
Das war dreizehn Jahre her. Und Janine Prentiss war jetzt Janine Clarke, sie war verheiratet und hatte selbst Kinder.
Christine Fell war ein Einzelkind. Ihr Vater war Dozent an der Anglia Ruskin University, spezialisiert auf Molekularbiologie, ihre Mutter freiberufliche Übersetzerin. Als Christine sieben war, kauften sie ein altes Bauernhaus bei Chatteris Fen. Das Land in der Umgebung wurde weitgehend landwirtschaftlich genutzt; es gab fantastische Sonnenuntergänge und einen weiten Himmel.
Christine besuchte eine private Grundschule in Ely, sie war fleißig und sehr beliebt bei Lehrern und Mitschülern. Ihre Mutter verbrachte viel Zeit damit, Christine zum Musikunterricht und zum Theaterclub zu fahren, aber auch zuFreundinnen, von denen einige in Ely wohnten, andere in der Gegend verstreut.
Im Juni 2000 an einem hellen, frühen Sommerabend fuhr Alice Fell ihre Tochter zum Haus einer Freundin im Dorf Little Downham nördlich von Ely. Es war der zwölfte Geburtstag der Freundin, Christine war noch elf.
Christine trug ein neues blaues Kleid, eine gelbe Strickjacke und passende blaue Schuhe. Alice versprach, sie um halb neun abzuholen, nicht später, aber der Anruf einer Kollegin hielt sie auf, und es war fast halb neun, bevor sie von zu Hause wegkam. Sie hatte allerdings angerufen und mit den Eltern des Mädchens gesprochen, das seinen Geburtstag feierte: Sagen Sie Christine, sie soll sich keine Sorgen machen, ich komme.
Da die meisten Gäste schon gegangen waren, beschloss Christine, bis zur Hauptstraße vorzugehen, um dort auf ihre Mutter zu warten.
Sie kam niemals an.
Drei Tage später wurde sie etwa zwanzig Meilen nördlich in einer ungenutzten Scheune in der Nähe eines Dorfes gefunden, wo sie an einer alten Quaderballenpresse festgebunden war. Sie trug noch immer ihre blauen Schuhe.
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Janine Clarke trug ein schwarzes Kostüm, das aussah, als wäre es an diesem Morgen
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