Schrei Aus Der Ferne
kümmere. In Ordnung, Will?«
»Ja, gut. Komm mit, Jake. Wer zuerst oben ist!«
Lächelnd ging Lorraine ins Wohnzimmer und nahm vorsichtig Susie auf den Arm.
30
Noch bevor der Ausbruch von Gewaltverbrechen die Sommermonate beherrschte und die Ressourcen aufs Äußerste beanspruchte, hatte Will – immer noch beunruhigt, sogar gequält von dem Gedanken, dass er Mitchell Roberts’ Vergangenheit nicht ausreichend durchleuchtet hatte – einem seiner Detective Constables aufgetragen, alle ungelösten Fälle von entführten oder missbrauchten Mädchen zu überprüfen, die eine mögliche Verbindung zu Roberts aufweisen könnten. Eine Aufgabe, die selbst im Computerzeitalter Mühe und Genauigkeit erforderte.
Immer noch stimmte er Liam Nobles Ansicht nicht zu, dass der Übergriff auf Martina Jones ein isolierter Vorfall war. Wills Erfahrung sagte ihm, dass Männer mit Roberts’ Vorlieben nicht mehr als fünfzig Jahre alt wurden, ohne eine einschlägige Vorgeschichte zu haben. Und doch war er anscheinend noch nie in Verbindung mit einer ähnlichen Tat verhaftet, geschweige denn verhört worden, und als sein Grundstück in Rack Fen durchsucht worden war, hatte man nichts Pornografischeres als eine alte Ausgabe von ›Penthouse‹ gefunden. Keine illegalen DVDs, keine Kinderpornografie, nichts, das die Fantasien genährt hätte, die dazu geführt hatten, dass die zwölfjährige Martina nackt, blutend und verletzt am Straßenrand zurückgeblieben war.
Will hatte versucht, sich einzureden, dass Noble recht habe und dass die Umstände – die Sommerhitze, das Auftauchen des Mädchens, das trotz seiner Jugend sexuell nicht unerfahren war – Roberts ein einziges Mal zu einem solchen Verhalten verleitet hätten. Ein Verhalten, das er jetzt zutiefstbedauerte. Noble hatte behauptet, dass Roberts bereue: Er habe seine Strafe verbüßt, seine Schuld abgegolten und seinen Fehler eingestanden. Und seiner Bewährungshelferin zufolge hatte er sich seit seiner Entlassung stets pünktlich gemeldet, war von der Werkstatt gelobt worden, in der er arbeitete, und hatte keinerlei Neigung gezeigt, rückfällig zu werden.
Vielleicht ist es ja so, dachte Will. Vielleicht.
Aber dann erinnerte er sich an das lüsterne Lächeln, das Roberts’ Mundwinkel bei ihrer Konfrontation in Cambridge umspielt hatte.
Haben Sie Kinder? Ich würde sie gern mal kennenlernen
.
Diese Erinnerung überzeugte ihn davon, dass Noble sich irrte und dass er recht hatte.
Drei der Fälle, die durch die Suche ans Licht kamen, interessierten Will besonders: die Fälle Rose Howard, Janine Prentiss und Christine Fell. Sie hatten sich alle innerhalb einer Zeitspanne von sieben Jahren – zwischen 1993 und 2000 – zugetragen, und zwar in einem Hundert-Meilen-Radius von der Stelle entfernt, wo sich der Übergriff auf Martina Jones ereignet hatte, nämlich in dem dünn besiedelten Hinterland von East Anglia. Janine Prentiss und Christine Fell waren entführt, missbraucht und dann zurückgelassen worden; Rose Howard war schlicht verschwunden.
Rose Howard hatte in einer neuen Sozialbausiedlung in Peterborough gelebt, als sie verschwand. Ihre Familie war drei Jahre zuvor von Corby dorthin gezogen, als die Fabrik, in der ihr Vater gearbeitet hatte, geschlossen wurde. Sie hatte einen älteren Bruder, Peter, der mit einer Gruppe von Aussteigern im Stadtzentrum herumlungerte und bereits Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt hatte. Rose versuchte, Freunde in ihrer neuen Schule zu finden, aber es warschwer, und als sie dann auf die Gesamtschule kam – »Das ist deine Chance auf einen neuen Anfang, liebe Rose«, hatte die Schulleiterin gesagt –, wurde es noch schlimmer. Obwohl es besser war, drangsaliert zu werden als ignoriert. Sie begann zu schwänzen, trödelte im Einkaufszentrum und am Busbahnhof herum. Eines Tages gab ihr ein Mann fünf Pfund dafür, dass sie die Hand in seine Hose steckte.
»Wo hast du das her?«, fragte ihre Mutter, als sie den zerknüllten grünen Geldschein in dem zerrissenen Futter ihres Mantels fand.
Als Rose es ihr erzählte, gab ihre Mutter ihr eine Ohrfeige und nannte sie eine dumme kleine Hure. Ihr Vater lachte und sagte, sie solle das nächste Mal einen Zehner verlangen – »Das kommt dem üblichen Preis näher«.
Rose weinte. Nicht, weil sie geschlagen worden war, sondern weil sie die fünf Pfund gespart hatte. Sie wollte nämlich weglaufen. Jetzt begann sie, ihrer Mutter Geld aus dem Portemonnaie zu
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