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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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stehlen, nicht viel, weil nie viel drin war, sondern gerade genug, dass es nicht bemerkt wurde. Sie stahl auch von den anderen Kindern in der Schule, nahm in der Toilette oder beim Sport Geld aus ihren Taschen, und einmal klaute sie der Lehrerin zehn Pfund, als diese ihre Tasche in der Mittagspause auf dem Pult stehen ließ.
    Ihr Schwänzen wurde schlimmer.
    Man teilte ihrer Mutter mit, dass sie ein Gerichtsverfahren riskiere, wenn sie nicht gewährleiste, dass ihre Tochter die Schule besuche.
    An einem feuchten, vernieselten Nachmittag im Februar packte Rose ein paar Kleidungsstücke in einen Rucksack, zusammen mit zwei Polly-Pocket-Puppen und einer CD von Take That, die sie von einem Stand auf dem Markt gestohlen und nie gespielt hatte, und machte sich auf den Weg.
    Zuletzt wurde sie von der Mutter eines Mädchens ausihrer Klasse gesehen, als sie in das Fahrerhaus eines kleinen Lasters mit offener Ladefläche stieg, der Säcke transportierte, die möglicherweise Kompost oder Dünger enthielten.
    Das war vor fünfzehn Jahren gewesen: seither keine Spur von ihr. Niemand hatte sie gesehen, und sie hatte auch keine Postkarte geschrieben. Wenn sie noch lebte, war Rose Howard inzwischen siebenundzwanzig Jahre alt.
     
    Die zwölfjährige Janine war zwei Jahre später, 1995, aus ihrem Zuhause in Wisbech verschwunden. Ihre Eltern, die auf ihrem Gelände einen Gemüseanbau betrieben, hatten sie mit den beiden jüngeren Geschwistern im Haus zurückgelassen: Alle drei hatten sich im Wohnzimmer vor dem Fernseher ausgestreckt. Die Eltern waren nicht weit weggegangen; die Mutter sprang im Laden für die halbwüchsige Aushilfe ein, die nicht erschienen war; der Vater war mit dem Untergraben einer frischen Lieferung Knochenmehl beschäftigt. Sie waren etwas länger als eine Stunde nicht im Haus, und während dieser Zeit verschwand Janine.
    Als die Mutter dann ins Haus zurückkehrte und fragte, wo Janine sei, sagte ihre jüngere Schwester, sie sei nach oben gegangen, um sich die Haare zu waschen; ihr Bruder, fünf Jahre alt, war völlig gefesselt von einem Zeichentrickfilm und schien gar nicht bemerkt zu haben, dass sie nicht mehr da war.
    Janine war weder im Badezimmer noch in dem Zimmer, das sie sich mit ihrer Schwester teilte.
    Wenn sie sich langweilte, ging sie manchmal nach unten und half ihrem Vater, aber dieser hatte sie auch nicht zu Gesicht bekommen. Anrufe bei Janines besten Freundinnen führten zu nichts. Ihr Vater fuhr östlich von Wisbech die Straßen in der Nähe ihres Hauses ab: Walsoken, Rosedale, Paradise Farm. Es war schon vorgekommen, dass Janine allein weggegangen war, aber niemals weit.
    »Was zum Teufel machst du nur, Mädchen?«, fragte ihre Mutter dann.
    »Nix, Mum. Ich denk nur nach, das ist alles.«
    Ihr Vater fuhr zurück und machte einen Umweg über Emneth und Oxburgh Hall. Flaches Land, gerade Straßen, hoher Himmel. Keine Spur von Janine.
    »Ich würde mir keine allzu großen Sorgen machen«, sagte der Polizeibeamte. »Sie sagen, sie zieht manchmal allein los? Ich wette, dass sie wieder auftaucht. Morgen früh, wenn nicht eher.«
    Der Morgen kam, aber sie war immer noch nicht da.
    Eine Suchaktion fand statt. Nachbarn, Freunde, Freiwillige. Dicht an dicht durchkämmten Polizisten in Spezialuniform die Felder in der Nähe des Hauses. Taucher suchten zwei tiefe Teiche ab, die weniger als eine halbe Meile entfernt waren. Janines Foto erschien auf eilig gedruckten Plakaten, die an Bushaltestellen und Telegrafenmasten aufgehängt wurden. Ein Mädchen mit einem länglichen Gesicht, glatten Haaren, lang und mittelbraun, grauen Augen, groß für ihr Alter.
    Drei Tage nach ihrem Verschwinden klopfte Janine an die Tür eines Bauernhauses in der Nähe von Outwell, etwa sechs Meilen, keinesfalls mehr, von ihrem Zuhause entfernt. Ihre Kleidung war zerrissen und ihr Haar ungekämmt   – als hätte sie in einem Graben geschlafen, dachte die Frau, die an die Tür kam. Janine fragte, ob sie bitte einen Schluck Wasser bekommen könne und die Toilette benutzen dürfe und ob die Frau dann so nett wäre, ihre Mutter und ihren Vater anzurufen und ihnen zu sagen, wo sie war.
    Die Geschichte kam nur langsam heraus. Weil sie sich im Haus langweilte, hatte sie einen kleinen Spaziergang auf dem Weg zwischen den Feldern gemacht, der auf die Straße zur Paradise Farm führte, und dort hatte ein Transporter angehaltenund der Fahrer hatte gefragt, ob sie sich verlaufen hätte. Vorne bei ihm saß ein Hund, ein schwarzweißer Collie,

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