Schrei Aus Der Ferne
sich in den Zug setzen und nach Hause fahren.
»Hier«, sagte sie und nahm einen Zehn-Pfund-Schein aus ihrem Portemonnaie. »Nur zu. Kauf sie. Und lass das Wechselgeld nicht liegen. Ich warte draußen.«
»Ruth«, sagte jemand, als sie mit den Einkaufstüten beladen durch die Tür trat. »Ruth.«
Es war Simon.
»Hallo, Ruth.«
»Mein Gott, Simon! Was machst du denn hier?« Sie stellte ihre Tüten auf den Boden. »Ich habe dich kaum erkannt.«
Es war die Wahrheit. Simon war immer dünn gewesen, jetzt aber war er ausgemergelt; sein Gesicht war hager, und seine Kleider – Jackett und Hose, die nicht zusammenpassten – hingen an ihm herunter, sodass seine unbeholfene knochige Gestalt betont wurde. Nur die Augen waren lebendig. Nur die Augen.
»Ich bin umgezogen«, sagte er atemlos. »Ich dachte, du wüsstest das. Ist schon ’ne Weile her. London hat … war nicht mehr das Richtige für mich. All die Leute, all der Lärm.« Er lachte – ein hohes nervöses Trillern. »Du warst die Vernünftige von uns beiden. Du hast dich aus dem Staub gemacht, sobald es ging. Hier auf dem Land kann man atmen. Und denken. Denken.« Mit einem merkwürdigen kleinen Schlurfen machte er ein paar Schritte auf sie zu und neigte den Kopf in ihre Richtung. »Ich wollte immer schon mit dir sprechen, weißt du. Und habe gehofft, ich würde irgendwo auf dich stoßen. Jetzt, wo ich ganz in der Nähe lebe.«
In der Nähe, dachte Ruth. Was soll das heißen?
Bevor sie antworten konnte, war Beatrice aufgetaucht. Das Haar aus dem Gesicht geschoben, hielt sie eine kleine Tüte von Accessorize in die Höhe, und die Münzen drohten, ihr aus der anderen Hand zu fallen.
»Mum, hier, das Wechselgeld.«
»Danke, Schatz. Ich …«
»Du musst Beatrice sein«, sagte Simon lächelnd und streckte die Hand aus.
Beatrice warf ihrer Mutter einen ängstlichen Blick zu und wich einen Schritt in Richtung Schaufenster zurück.
»Bea, das ist Simon. Er …«
»Deine Mutter und ich waren mal verheiratet«, sagte Simon. »Vor langer Zeit.« Er ließ die ausgestreckte Hand nach unten fallen. »Ich habe mich immer gefragt … oft gefragt, wie du wohl aussiehst.«
Beatrice sah weg.
Ein Paar, das sich gegenseitig die Arme um die Schultern gelegt hatte, drängte sich achtlos an ihnen vorbei.
»Sie ist süß, Ruth. Sehr süß.« Er lächelte.
»Wir müssen jetzt wirklich gehen«, sagte Ruth und sammelte die diversen Tüten zu ihren Füßen ein. »Der Zug …«
»Natürlich, natürlich.« Er kam näher und beugte noch einmal den Kopf nach unten, schnell wie ein Vogel. »Irgendwann sollten wir reden«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Es gibt da diese Gruppen, Selbsthilfegruppen. Leute, die es verstehen. Die verstehen, was du durchgemacht hast. Was wir beide durchgemacht haben. Ich denke, sie könnten dir helfen.«
»Danke, Simon. Aber mir geht es wirklich gut. Ich brauche keine Hilfe. Uns geht es allen gut.«
Sie schnappte sich Beatrice und ging. Als sie einen Augenblick später zurücksah, stand er noch immer mit nach vorn gerecktem Hals da und sah ihnen nach.
»Mum«, sagte Beatrice, als sie eilig zum Bus liefen, und zog an ihrem Ärmel. »Dieser Mann. Du warst doch nicht wirklich mit ihm verheiratet? Vor Dad. Das war er? Mit dem kannst du doch nicht verheiratet gewesen sein.«
»Es ist lange her«, sagte Ruth. »Sehr lange. Damals war er anders.«
Nein, dachte sie, jetzt ist er anders.
»Und das war alles?«, sagte Andrew. »Du hast nicht herausbekommen, was er da zu tun hatte? Wo er wohnt? Nichts?«
Sie saßen nach dem Abendessen im Esszimmer; die Vorhänge bewegten sich leicht im Wind. Die schrillen Quietschtöne aus einem anderen Zimmer verrieten ihnen, dass ihre Ermahnungen Erfolg gehabt hatten und Beatrice Flöte übte.
»Nein. In der Nähe, hat er gesagt. Jetzt, wo ich ganz in der Nähe lebe.«
»Glaubst du, dass er hier in Ely wohnt?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht gefragt.« Sie goss sich noch etwas Wein ins Glas und reichte Andrew die Flasche. »Ganz ehrlich, die Sache ist mir an die Nieren gegangen.«
»Weil du überrascht worden bist.«
»Ja, könnte sein.«
»Jemanden ganz unvorhergesehen in einem unerwarteten Zusammenhang zu treffen, das ist immer merkwürdig.«
»Ja, ich weiß. Aber das … All das Gerede über Selbsthilfegruppen und Leute, die einen verstehen …«
Ein kurzer Schauder durchlief sie und Andrew griff über den Tisch nach ihrer Hand. »Er hat wahrscheinlich niemanden
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