Schrei der Nachtigall
Andrea in den Arm und hielt sie lange fest. Nach einer Weile sagte er: »Wenn ich mir so manche Ehen anschaue, da kriegt man das Fürchten. So will ich nie sein. Ich liebe dich. Und jetzt gehen wir rüber.«
Um sieben riefen sie beim Italiener um die Ecke an und gaben eine große Bestellung auf. Wenig später klingelte sein Telefon. Elvira Klein.
»Ich habe mit Frau Wrotzeck gesprochen und dem Haftrichter den Sachverhalt telefonisch geschildert. Sie ist gerade auf dem Weg nach Hause. Sie hatten recht, diese Frau hat kein Verbrechen begangen, auch wenn ich natürlich Anklage erheben muss. Aber Sie können sich darauf verlassen, dass es ein kurzer und schmerzloser Prozess wird. Ich werde auf fahrlässige Tötung im Affekt plädieren, dasbedeutet, dass sie mit einer Bewährungsstrafe davonkommt.«
»Ich sag doch, manchmal sind Sie ein richtiger Schatz.«
»Herr Brandt, wenn Sie meinen …«
»Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Abend, und vielleicht sehen wir uns ja morgen. Ciao.«
»Was war das denn?«, fragte Andrea ziemlich verwundert.
»Nicht was, sondern wer. Deine Freundin …«
»Und wieso nennst du sie Schatz?«
»Weil sie heute ausnahmsweise mal einer war. Erklär ich dir später. Die Pizza müsste gleich kommen.«
»Auf die Erklärung bin ich gespannt. Wenn ich da was merke.«
»Ich war gestern auch schon bei ihr zu Hause. Sie wohnt schön, wirklich. Aber unbezahlbar für einen kleinen Bullen wie mich.«
»He, hallo, das wird ja immer schöner«, sagte Andrea, während Sarah und Michelle vor sich hin grinsten. »Du warst bei ihr zu Hause?!«
»Rein dienstlich, sie wollte nicht ins Präsidium kommen. Ich brauchte ihren Rat.«
»Ich glaub, ich bin im falschen Film. Du brauchtest ihren Rat?! Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Später vielleicht. Aber sie hat mich auf die richtige Spur gebracht. Irgendwann werde ich schon noch mit ihr klarkommen. Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«
»Na, na, Elvira sieht nicht nur fantastisch aus, sie hat auch was im Kopf.«
»Stimmt«, entgegnete Brandt nur.
»Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«
»Ein andermal, jetzt brauche ich meine Ruhe«, antwortete er und lehnte sich zurück.
Bis fast Mitternacht blieben sie zusammen und sahen sich zwei DVDs hintereinander an, nur Michelle war in seinen Armen eingeschlafen. Brandt war zufrieden. Das einzige, was noch blieb, war, die Uhr seines Vaters bei Caffarelli abzuholen. Und hin und wieder Allegra einen kurzen Besuch abzustatten.
Am Montag überflog Brandt im Büro alle Schriftstücke, darunter viele Briefe und sogar eine Art Tagebuch, die er aus Wrotzecks Sekretär mitgenommen hatte. Und plötzlich stieß er auf etwas, das Wrotzecks Verhalten zumindest einigermaßen erklärte. Er rief sofort bei Elvira Klein an und fragte sie, ob sie einen Moment Zeit für ihn habe, auch wenn er sich normalerweise etwas Besseres vorstellen konnte, als die nächsten ein, zwei Stunden mit ihr zu verbringen.
»Hier«, sagte er und legte ein Schulheft auf den Tisch. »Da drin steht Wrotzecks Vergangenheit.«
»Können Sie’s mir nicht erzählen?«, fragte Elvira Klein und lehnte sich zurück. »Ich bin in Zeitdruck.«
»Okay. Wrotzeck hatte einen älteren Bruder, der uneingeschränkte Liebling des Vaters. Dieser Bruder ist mit dreizehn von einem Mähdrescher überfahren worden, ein Unfall, mit dem unser Wrotzeck nichts zu tun hatte. Aber sein Vater hat gesagt, ihm wäre es lieber gewesen, wenn Kurt anstelle seines Bruders umgekommen wäre … Na ja, jedenfalls hat ihn das geprägt. Da muss sich ein Hass inihm gegen die ganze Welt aufgebaut haben, der nur schwer zu beschreiben ist. Und als dann auch noch seine große Liebe den Nachbarn geheiratet hat, war’s endgültig vorbei … Keiner wird zum Mörder geboren.«
»Und der hat das alles für sich behalten?«, fragte Elvira Klein zweifelnd.
»Ich gehe davon aus. Dass seine Frau was davon wusste, halte ich für ausgeschlossen. Der hat sie nicht an seinem Leben teilhaben lassen, er hat eigentlich niemanden daran teilhaben lassen. Ich wollte Ihnen das nur mitteilen. Manchmal ist es ganz gut, wenn man die Hintergründe kennt.«
»Aber das rechtfertigt noch längst nicht die drei Morde, die er begangen hat.«
»Das habe ich auch nicht damit gemeint. Ich wollt’s Ihnen nur sagen, mehr nicht.«
»Gut, dann kann ich mich ja wieder meiner Arbeit widmen. Auf Wiedersehen, Herr Brandt.« Sie schlug eine Akte auf und sah nicht mehr, wie Brandt kopfschüttelnd das Büro
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