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Schroedingers Schlafzimmer

Titel: Schroedingers Schlafzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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seines Vaters geerbt (an die er sich noch zu erinnern meinte), sondern die etwas geduckte, o-beinige, kompakte Körperlichkeit seiner Mutter. Der Mann in ihm, so glaubte er irgendwann zu begreifen, hatte vom anderen Geschlecht genetische Fesseln angelegt bekommen, auf daß verhindert werde, daß er eines Tages unter vollen Segeln auf das Meer der erotischen Möglichkeiten hinaus- und davonsegelte.
    Von seiner Mutter erbte er aber auch eine gewisse Beharrlichkeit. Gezwungen, den Lebensunterhalt für ihre drei Kinder allein zu verdienen, hatte sie schon früh damit begonnen, Nordseekrabben zu schälen, beziehungsweise zu pulen, wie es in der Region um Wilhelmshaven hieß. Das Krabbenpulen war eine Fingerfertigkeit, die sich nicht durch Konzentration oder analytische Vergegenwärtigung des zu Tuenden erwerben ließ, sondern einfach nur durch |26| (ganz und gar im Wortsinne zu verstehende) millionenfache Übung. Jeden Morgen wurden die winzigen rötlichgrauen, frisch gefangenen und gekochten Krabbentierchen kanisterweise angeliefert und waren bis zum Abend zu schälen. Danach wurden sie in diversen Restaurants, Feinkostgeschäften oder heimischen Küchen mit Mayonnaise vermischt oder mit dem damals in Mode gekommenen Thousand-Island-Dressing.
    Olivers Mutter war
so
beharrlich, daß es ihr gelang, im Laufe ihres Lebens ein Eigenheim zusammenzupulen. Zu Beginn der siebziger Jahre zog sie mit ihren Kindern dort ein. Wenn man davon ausging, daß für das Kilo Krabbenfleisch als Handelsware in den sechziger Jahren etwa vier Mark bezahlt wurden, und man ferner zugrundelegte, daß eine einzelne gepulte Krabbe etwa ein halbes Gramm wog, dann verdiente man pro Krabbe etwa zwei Zehntel Pfennig, was bedeutete, daß für das Eigenheim, das damals ungefähr achtzigtausend D-Mark gekostet hatte, etwa vierzig Millionen Krabben zu pulen gewesen waren, was wiederum bei einer Pulzeit von drei bis vier Sekunden pro Krabbe und auf der Basis einer Vierzig-Stunden-Woche zu einer Eigenheimfinanzierungspuldauer von gut zwanzig Jahren führte, Zinsbelastungen nicht eingerechnet. Da gleichzeitig aber noch drei Kinder und Olivers Mutter selbst zu ernähren und die Kreditzinsen zu bedienen waren, läßt sich sofort einsehen, daß das erforderliche Pulprogramm die Kräfte und Möglichkeiten einer einzelnen Krabbenpulerin überstieg, weshalb Oliver und seine Schwestern von Anfang an in das Eigenheimpulprojekt mit einbezogen wurden. Aus dieser Zeit stammte Olivers |27| Begeisterung für optische Vergrößerungsinstrumente, für Brillen, Linsen und Lupen aller Art.
    Immer wenn er als Junge in der vom Meerwassergeruch der Krabben erfüllten Küche saß, überkam ihn ein nahezu zwanghaftes Bedürfnis, die grauen, von Ferne nur wie gekrümmte Larven aussehenden Gebilde durch die vergrößernden Sehhilfen seiner vom ständigen Pulen weitsichtig gewordnen Mutter zu betrachten. Die Brillen offenbarten eine erstaunliche Fülle von anatomischen Details. Sie machten aus den kleinen Krabbentierchen wahre Monster; winzige Scherchen wurden sichtbar und haarfeine Fühler, schuppig gegliederte Schwänze und kurze gekrümmte Beinchen. Der Vergrößerungseffekt kam Oliver wie Zauberei vor, wie eine wundersame Vermehrung von Realität. Die Brillenwirklichkeit schien reichhaltiger zu sein als die unbebrillt wahrgenommene, abenteuerlicher und gefährlicher.
    Später, als junger Mann, stellte er sich vor, es müßte etwas Besonderes sein, Frauen durch Brillen zu betrachten. Er selbst brauchte keine, jedenfalls damals nicht. Seine ersten sexuellen Erfahrungen waren hungrige, aber wenig draufgängerische Liebeserlebnisse, die ihm das Gefühl vermittelten, nichts oder viel zu wenig über die Liebe zu wissen. Vielleicht stand die zu entdeckende Wahrheit in einem Buch, sagte er sich. Oder ihre Kenntnis ließ sich nur als Erfahrung auf der Straße erwerben, dort, wo die Jungen die Mädchen verachteten, die trotzdem, wie zur Belohnung, mit ihnen schliefen. Aber es gelang Oliver nicht, Frauen zu verachten, obwohl er sich ihnen immer unterlegen gefühlt hatte (und auf eine unbestimmte Weise |28| noch fühlte). Immer wenn er mit einer Frau zusammen war, kam es ihm vor, als würde er irgend etwas übersehen. Aber er kam nie dahinter, was es war. Und eine Brille, die ihm diese Wahrheit gezeigt hätte, fand er nie.
    Als seine Mutter starb, verkauften seine beiden Schwestern und er das zusammengepulte Haus einvernehmlich und zügig und drittelten den Erlös. Einst in einem bäuerlich

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