Die Terranauten 072 - Das Erbe im Eis
… müssen wir uns heute fragen, ob es sich bei diesem Tatbestand tatsächlich nur um eine zufällige Übereinstimmung handelt: Mayor terGorden entdeckte unter dem abtauenden Eis von Grönland den Urbaum Yggdrasil. Die Misteln der Borstenzapfenkiefer machten die Erste Treiberraumfahrt möglich. Ein Nachkomme dieses Mayor terGorden, Growan terGorden, heiratete eine gewisse Myriam del Drago (siehe Anhang: Adzharis, Barnum-System), und aus der Verbindung ging ein Sohn hervor: David terGorden.
Doch der Vater lehnte seinen Sohn ab. Denn Myriam ging, als sie schon schwanger war, eine Verbindung mit Yggdrasil ein. Sie schloß ihren Lymphkreislauf an die Kapillarsysteme Yggdrasils an, und sie war der erste Mensch, dem eine Kommunikation mit dem Pflanzenbewußtsein gelang. Dieser selbstmörderische Versuch blieb jedoch nicht ohne Folgen. Er veränderte David. Er war ein Mensch – und doch mehr als ein Mensch. Ihm wurde ein PSI-Potential zuteil, das zum größten Teil brachlag und ihm selbst ein Mysterium war.
Myriam hinterließ eine Botschaft – das Buch Myriam. Sie versprach den unterdrückten Treibern einen Erben der Macht. Doch lange wußte niemand – am allerwenigsten der Betroffene selbst –, was dies bedeutete (siehe Anhang: Analytische Interpretationen).
Die Ära der Ersten Treiberraumfahrt fand ein Ende. Die Dunkle Zeit brach an. Und die Katastrophe drohte.
Aber noch immer wußte niemand, was »Erbe der Macht« bedeutete. Noch immer ahnte niemand, wie wichtig dies für die Menschheit und darüber hinaus werden sollte …
(Aus: Der Erbe der Macht – Historische Betrachtungen, Neu-Sarym, 3017 A.D.)
*
Über der zweihundertköpfigen Versammlung funkelte die transparente Protopkuppel in allen Farben des Spektrums. Das Licht der Sonne Norvo brach sich und wurde zu einem Ozean aus Farben. Von den höchsten Sitzen der Empore aus hatte man einen guten Überblick über Neu-Thule. Die prächtigen Gebäude duckten sich an die Hänge des Mount Credock, des erloschenen Vulkans, dessen Kegel den Zugang zu den unterirdischen Hangars der Forschungsstation vor der Küste des südlichen Kontinents von Sarym bildete.
Es ist noch gar nicht lange her, dachte David, da war diese Station ein Ort des Schreckens. Heute dienen die gleichen Anlagen humanitären Zwecken: den Untersuchungen der Stummen Treiber, den Versuchen, diesen gehirnoperierten Treibern zumindest einen Teil ihrer Fähigkeiten zurückzugeben.
»Kommen wir zum letzten Punkt.« Die Stimme des Sprechers drang aus den Lautsprechern, die überall im Saal angebracht waren. Sie wurde vom externen Kommunikationssystem übertragen und war in jedem Haus und in jeder Wohnung von Neu-Thule zu verstehen. Eine interkontinentale Verbindung sorgte weiterhin dafür, daß die Tagungen des Treiberrats auch auf Surin, dem nördlichen Kontinent Saryms, verfolgt werden konnten.
Dreißigtausend Treiber, Stumme Treiber und Surinen hören zu, dachte David. Und wenn das, was ich zu sagen gedenke, bei ihnen die gleichen Reaktionen hervorruft wie bei meinen engsten Freunden … Warum verstand ihn niemand?
»David? David …«
Er straffte sich und hob seinen Blick. Das Stimmengemurmel legte sich.
»Die bisher diskutierten Punkte sind von großer Bedeutung«, sagte er, und es klang fast entschuldigend. Er musterte die Gesichter der ihm Zuhörenden. Manche waren ernst, als wüßten sie, was er anzusprechen gedachte. »Mehr als dreißigtausend Treiber haben hier auf Sarym eine neue Heimat gefunden, nachdem wir wissen, wie unsere Stummen Freunde in das Öko-System dieser Welt integriert werden können. Weitere fünfzig- bis sechzigtausend müssen noch hierhergebracht werden. Neue Unterkünfte müssen geschaffen, die Forschungsarbeiten intensiviert werden. Viele unserer Kameraden setzen darauf all ihre Hoffnungen.«
Eine kurze Pause.
»Und doch. Es gibt einen Punkt, der von weitreichenderer Bedeutung ist: Kaiserkraft.«
»Die KK-Raumfahrt ist eingestellt!« rief jemand aus dem Plenum.
»Noch nicht ganz«, gab David zurück. »Im Inneren Bereich des Sternenreiches verkehren immer noch die großen KK-Frachter. Und die Schiffe der Garden sind ebenfalls nicht innerhalb von einigen wenigen Jahren umzurüsten. Unsere Szenarios haben ergeben, daß wir für zehn bis fünfzehn Jahre nicht auf die Kaiserkraft verzichten können.« Er lächelte gezwungen. »Wir könnten es. Aber nicht das Konzil. Aber selbst wenn jetzt bereits nicht ein einziges Kaiserkraftschiff mehr verkehrte – es
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