Schroedingers Schlafzimmer
glaubte nicht, daß innen noch gearbeitet wurde, er nahm |31| an, daß man vergessen hatte, die Tür zu schließen. Als Nachbar, dachte er, könnte er es wagen einzutreten. Innen roch es säuerlich nach frischem Putz und den Ausdünstungen trocknender Wandfarbe. Er betrat eine Art Salon mit L-förmigem Grundriß, der Raum hatte fünf hochformatige, bis zum Boden reichende Fenster, deren mittleres zugleich die Glastür war. Auf dem Boden war Pappe ausgerollt, und das allgegenwärtige Renovierungsgrau verbreitete ein gespenstisches Licht. Oliver hatte das Gefühl, sich in einen Schatten zu verwandeln. Rohranschlüsse verschwanden dunkel in den Wänden, und Elektrokabel hingen schlaff von den Decken. In der Mitte des Hauses führte eine Treppe hinauf, von dort fiel ein farbiger Lichtrest, eine Sonnenandeutung ins Erdgeschoß.
Und es klangen Stimmen herunter. Oliver fragte sich, was besser wäre: zu verschwinden oder sich als Nachbar vorzustellen. Unentschlossen blieb er auf dem Treppenabsatz stehen. Genaugenommen war es nur eine Stimme, die dort oben mehr oder weniger monologisierte, kehlig und tief, lässig und einnehmend und ohne erkennbaren Dialekt. Dies, verkündete sie soeben, solle das Schlafzimmer werden! Hier sei etwas Besonderes zu finden, etwas ganz und gar Einzigartiges, eine Farbsensation, die den Raum gleichsam verschwinden lasse, die seine steinerne Materialität in Licht, in ein lebendiges Spiel von Schwingungen auflöse.
»Als Maler«, sagte die Stimme, »sollte Ihnen das, was ich sage, nicht vollkommen fremd sein.« Oliver hörte das Schnappen eines Feuerzeugs und das gedehnte Ausblasen von Rauch. »Was hier in diesem Raum geschehen soll, |32| sind Verwandlungen! Ich beschäftige mich beruflich mit dem Senden und Empfangen von geistiger Energie. Was halten Sie von Lavendelblau? Oder dem vollen sämigen Farbton von Akazienhonig. Ich könnte mir auch das rötliche Schimmern des Mars vorstellen, also eine Art inneres Rubinleuchten. Oder aber das transparente präzise Grün mit mal bläulichem mal gelblichem Einschlag, wie man es in den Augen von Katzen findet …«
Die über Farbnuancen räsonierende Stimme kam näher, und Oliver beschloß, lieber zu verschwinden. Indem er die Füße langsam aufsetzte und eilig abrollte, ging er durch den Flur zurück ins Wohnzimmer und huschte durch die Terrassentür in den Garten. Im Schutz der beiden gewaltigen Rhododendren schlich er zur Grundstücksgrenze, und da niemand ihm etwas nachrief, nahm er an, daß er unentdeckt geblieben war. Aber als er sich auf dem Gehweg seinem Wagen näherte, kribbelte sein Rücken, als sende ihm Balthasar Schrödinger, auf seiner Dachterrasse stehend, mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger einen jener magischen Bannstrahlen nach, die in Zeichentrickfilmen durch glitzernde gezackte Linien dargestellt werden.
Zu erregt, um sogleich nach Hause zu fahren und Do in seinem nervösen Zustand gegenüberzutreten, gondelte Oliver noch ein wenig durchs Viertel. Die Natur beruhigte ihn. Die Äste der Kastanien hatten sich unter dem Gewicht ihrer jungen Blätter der Straße entgegengesenkt und formten dämmrige Tunnel. Seitlich sprenkelten helle Nadelbaumtriebe die Vorgärten. Endlich war die Natur wieder größer als die Zäune. Heckenschößlinge schlängelten sich durch Drahtmaschen, bis sie wieder gekappt |33| werden würden. Dieses ständige Ringen um Vorherrschaft, die Natur als eigentlicher Zauberer: Kaum sieht man nicht hin, ist auch schon etwas da, wo vorher nichts war. Das große Varieté des Frühlings: Blüten in allen Knopflöchern der Vegetation. Büsche, die mit Hunderten von Knospen jonglieren. Die Hochseilakte der Eichhörnchen, der Cancan der Tulpen in den Brisen. Und Pusteblumen, die auf den Wiesen schaukeln wie Schaumblasen. Die Natur ein Theater der Illusionen, eine Zauberei aus dem Nichts, ein großes glamouröses Prahlen zum Zweck der Fortpflanzung. Oliver dachte: Das Geheimnis bei jedem Zauber ist die Ablenkung, und vermutlich ist es bei der Liebe genauso. Zum ersten mal seit langer Zeit dachte er wieder an seinen Vater und dessen Liebesabenteuer. Na schön, dachte er, vielleicht bin ich der Sohn eines Zauberers. Na schön, warum auch nicht. Aber wie geht es nun weiter?
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Es war – wenig verwunderlich – Helma Kienapfel, Dos beste Freundin, die es in die Hand nahm, Balthasar Schrödinger gesellschaftlich in seine zukünftige Nachbarschaft einzuführen. Von Anfang an war Helma stets aufs präziseste informiert
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