Schrottreif
Hamburger briet oder Bier servierte, denen sie eigentlich intelligenzmäßig überlegen war. Möglicherweise hatte Hugo Tschudi genau diesen Schwachpunkt entdeckt und auf dieser Klaviatur gespielt, ganz leise, pianissimo, ganz zart und gnadenlos den Finger in die Wunde gelegt. Tschudi war in der Psychiatrie gewesen und es gab psychisch kranke Leute, das wusste sie, die äußerst hellhörig waren für die Verletzlichkeiten anderer und erbarmungslos diese Fähigkeit ausnutzten.
Sie hatte eine solche Frau gekannt; vor vielen Jahren, während des Studiums, hatte sie für kurze Zeit in einer Wohngemeinschaft mit Lina und ihr zusammengelebt. Petra hieß sie und stammte aus Frauenfeld. Valerie erinnerte sich an eine Szene. Lina war heimgekommen, irgendwie bedrückt, wie schon seit Tagen, hatte keine Lust zu reden. Aber Petra hatte sie nicht in Ruhe gelassen, in gespielter Beiläufigkeit und betonter Harmlosigkeit ein Thema nach dem anderen zur Sprache gebracht: Linas Prüfungsergebnis, den Unfall ihrer Mutter, hatte beharrlich einen Schuss ins Blaue nach dem anderen abgegeben, bis sie endlich mit der Bemerkung, wer denn die hübsche Frau sei, mit der Simon, Linas damaliger Freund, am Abend zuvor durchs Niederdorf geschlendert sei, ins Schwarze getroffen hatte. Lina war zusammengezuckt.
»Oh, das ist sicher schwer für dich«, hatte Petra mit sanfter Stimme, mit einem langen, besorgten Blick geheuchelt. »Ich möchte nicht an deiner Stelle sein.« Es war keine schöne Szene gewesen. Aber Petra hatte sie, unter einer sehr dünnen Schicht Anteilnahme, schlicht und einfach genossen. Als sich kurz darauf herausstellte, dass Petra psychisch krank war, was sie beim Kennenlerngespräch in der WG natürlich verschwiegen hatte, und, nicht zum ersten Mal, für ein paar Wochen ins Burghölzli musste, hatte sich Valeries Mitgefühl in Grenzen gehalten. Sie konnte ihre Bosheit und ihre Freude am Triumph nicht vergessen. Es war für Valerie und Lina klar, dass Petra nicht zu ihnen zurückkehren würde, und sie besuchten sie auch nicht in der Klinik. Noch heute, dachte Valerie, möchte ich nichts mit Petra zu tun haben. War Hugo ein ähnlicher Typ? Ein kranker, böser Mensch?
Valerie stieg aus dem Bad, streifte sich weiche Leggings, dicke Wollsocken und einen langen Pulli über und schob eine große Fertig-Lasagne in den Ofen. Sie öffnete eine Packung schon gewaschenen Baby-Leaf-Salat und eine Flasche Wein. Leon und Lina kamen heute zum Abendessen. Leon hatte sich bei Valerie entschuldigt. Sie hatte die Entschuldigung angenommen, fühlte aber ihm gegenüber immer noch eine Distanz und Verunsicherung. Deshalb hatte sie beide Freunde eingeladen, in Linas Gegenwart würde sie sich sicherer fühlen und sehen, ob sie den Draht zu Leon wiederfand. Es war ihr klar, dass sie die Geschichte, die sie heute erfahren hatte, für sich behalten musste. Darüber hätte sie einzig mit Streiff reden können. Sie könnte ihn anrufen, aber er war heute Morgen so kurz angebunden gewesen, dass sie es lieber bleiben ließ.
Beim Abendessen vermieden sie zunächst das heikle Thema, sprachen über Kunst, über Bücher, über die Hunde, über Politik.
»Habt ihr es schon gehört?«, kicherte Lina. »Angela Legler will für die Gemeinderatswahlen kandidieren. Für die CVP.«
Valerie grinste. »Na, wenn sie dort so herumtobt wie bei mir im Laden, wird sie nicht viel Erfolg haben. Mir kanns egal sein, ich wähle sie sicher nicht.«
Natürlich kamen sie später doch auf die Ereignisse um FahrGut zu sprechen. Valerie verschwieg, was sie von Sibel erfahren hatte, erzählte aber von Frau Zweifels Unfall und dem verschwundenen Handy. Leon wurde aufmerksam.
»Findet ihr das nicht merkwürdig«, fragte er, »dass die Frau ausgerechnet an diesem Tag einen Unfall hatte?«
»Denkst du, jemand hat ihr ein Bein gestellt?«, witzelte Lina.
»Hört auf«, wehrte sich Valerie gereizt, »für euch ist das ein spannendes Rätselspiel. Aber für mich ist es Wirklichkeit und die Figuren in eurem Mystery sind zufälligerweise richtige, lebendige Menschen, wie die alte Frau Zweifel zum Beispiel. Ich will nicht daran schuld sein, dass sie jetzt krank im Bett liegt!«
Freitag, 3. Woche
1. Teil
Valerie bremste scharf. ›Mord und Todschlag = Weiberwirdschaft‹ war quer über das eine Schaufenster von FahrGut gesprüht. Auf dem anderen war ›Judenfreundin‹ hingeschmiert worden. Valerie fluchte. Eine Welle von Jähzorn überschwemmte sie. So nicht! Sie sperrte Seppli in den
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