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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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schon nichts sein, aber mir ist, nicht ganz wohl – er schloß die Augen, die Augenlider fielen wie Deckel herunter und erstickten auch diese Stimme. Wird schon besser, sagte er, wischte sich wieder den Schweiß ab und sah die Nejedly an. Alles zusammen, es fügt sich, alle acht Jahre, es ist, unglaublich, wie funktioniert so eine, er schluckte, Legende? Er sah sie an, überhörte, was sie sagte, sah jetzt nur, wie sie ihn anschaute, er sah sie, als würde sie in die Ferne blicken, bis hinüber zum See, über den See, ja sie blickte über den im Zwielicht liegenden See, voll Ehrfurcht sah er sie blicken über dieses Panorama, die Heimat, da war alles neu, die Wiese, die Bäume, die Steine, alles neu, es sah aus wie soeben erschaffen, so neu wie dieses neue Badgebäude, und er sah die Wasserfläche des Braunsees, wie eben erst eingeschenkt, mit beiden Händen umfaßte er die Kaffeetasse, trank sie leer, stand auf. Nein, nein, Frau Nejedly, es geht schon wieder, ist schon besser, ich fahr jetzt runter zum See.
    Im Auto öffnete er das Seitenfenster, atmete tief durch, kontrollierte sein Aussehen im Rückspiegel, Aug in Aug mit seiner Sonnenbrille.
    Er fuhr vom Hauptplatz in die Straße zum See wie in einen Trichter, durch den er schlingernd durchgezogen wurde, um herauszukommen am Seeufer, bei dem stumm rotierenden Blaulicht.
    Die Sanitäter, der Arzt, die Rettung war unmittelbar vor ihm gekommen. Alle acht Jahre, dachte er, eine Legende, aber sie wirkt. Wenn man nachhilft. Das hilft. Acht Jahre Ruhe. Und wenn was aufkommt? Ruhe, Ruhe, Ruhe. Eine Decke wurde hochgehoben, weggezogen, der Arzt versuchte das Kind zu beatmen, Haben wir schon versucht, Herr Doktor, sagte einer.
    Die Beine des Kindes. Dünne, feste Beine mit ein paar Mückenstichen. Ein Knie ein bißchen aufgeschürft, verkrustet. Ein kurzärmeliges rotes Kleid, neben dem Kinderarme lagen, als gehörten sie nicht dazu. Über dem Gesicht des Kindes der Kopf des Arztes. Ein namenloser nasser Kinderkörper. Wem gehört das Kind, sagte König, hat man schon die Identität, die Eltern – Ja, es ging wieder, er war wieder der King, Janda! rief er, habt ihr schon die Eltern – Janda sah ihn an, der Arzt brach die Wiederbelebungsversuche ab, stand auf, König sah hinunter auf das Kind, sein Blick wanderte von den Füßen den Körper hinauf bis zum Gesicht, König schüttelte den Kopf, immer schneller, aber wohin sein Blick auch fuhr, von rechts nach links, von oben nach unten, sein ganzer Gesichtskreis bestand nur aus dem leblosen Körper seines Sohnes, Bruno Maria, dessen Gesicht er nun überall sah, er sah diesen Körper und überall auf diesem Körper das Gesicht, das den Körper hinabrann, der bedeckt schien von Haaren, Augen, Mündern, Zungen, völlig durchnäßt, eine Tränenflut, ein Schrei, König riß sich los von den Händen, die nach ihm griffen, da schwebte der Körper weg, die Sanitäter hoben das Kind auf und trugen es zum Rettungswagen, da waren wieder Hände, an seinem Arm, seiner Schulter, seinem Rücken, Stimmen, er lief weg, man lief ihm nach, Dolfi! Der Stein. König kletterte hinauf, es ging ganz leicht, trotz dieses tauben Gefühls in seinen Händen und Füßen, schon war er oben, wieder obenauf, er setzte sich in der Mulde auf dem Stein zurecht, wimmerte er? Kicherte er? Wer war da unten? Wer rief? Er sah es nicht. Er sah über den See, der sich in Raster auflöste, zuerst sah es aus wie ein grobgerastertes Foto, aber das Bild löste sich in immer gröbere Raster, in Muster auf, die schließlich nichts mehr bedeuteten, nichts anderes mehr als ein unendlich harmonisch zusammengefügtes Muster, in das er sich sinken ließ.
24.
    Das Blatt vor ihm war beschrieben mit einigen Floskeln. Immer wieder sah er zu der großen Anzeigetafel hin. Übersichtlich, funktional, so müßte er schreiben. Dann ratterte es, und auf der Anzeigetafel war nichts zu erkennen, nur ein Rotieren und Huschen, so sah es auch in seinem Kopf aus. Dann stand auf der Tafel wieder alles still, alles klar lesbar und am aktuellen Stand. Aber so wollte ihm der Brief nicht gelingen. Er hörte immer wieder Durchsagen in mehreren Sprachen, und er hatte das Gefühl, in einer Fremdsprache schreiben zu müssen, die er ungenügend beherrschte.
    Als ob es noch eines weiteren Beweises bedurft hätte: Im Haus seiner Mutter wurde man wahnsinnig, verrückt, genauso wie die Frau, von der seine Mutter ihm erzählt hatte, die Frau, die früher in diesem Haus gewohnt hatte. Da konnte die Mutter

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