Schuechtern
seinen Körper unter Jacken, Kapuzen und Mützen zum Verstummen − und wenn kein anderes Mittel mehr hilft, «übergießt» ihn die Schamesröte und entzieht ihn dadurch, wie Walter Benjamin es formuliert, «wie unter einem Schleier den Blicken der Menschen». In gewisser Weise dreht der Schüchterne also den Spieß, der so schmerzhaft in seiner Seite steckt, einfach um: Er wendet den Blick gegen seine Betrachter. Er fühlt sich von seiner Umwelt beobachtet, also beobachtet er seine Umwelt. Der Schüchterne weiß mehr über seine Mitmenschen, als diese ahnen. Er ist ein Spion, ein stiller Teilhaber, ein Ethnograph seiner Kultur und Gesellschaft.
Widerstand Und was er sieht, behagt ihm nicht besonders: Die exposure culture ist keine Gesellschaftsform die er, und sei es nur als Beobachter oder systemrelevantes Delta-Tier, mittragen möchte. Aber natürlich ist gerade der Schüchterne ein guter Demokrat: Jede Form der Herrschaft, die Einzelne ungebührlich ins Rampenlicht rückt, ist ihm zuwider, und dass er sich selbst auf dem politischen Parkett exponieren könnte, erscheint ihm völlig undenkbar. Auch seine Systemkritik kommt deshalb auf leisen Sohlen daher.
Der Schüchterne beschränkt sich darauf, die Glaubenssätze der Casting-Gesellschaft durch seine schiere Anwesenheit in Frage zu stellen. «Schüchternheit ist nicht nur ein passiver Zustand», schreibt die Soziologin Susie Scott, «der darin besteht, dass man aus Befangenheit oder Willensschwäche oder sozialer Unerfahrenheit am sozialen Miteinander nicht teilnehmen kann . Man könnte sie auch als subtile, aber wirkungsvolle Form des Widerstands interpretieren […]. Indem der Schüchterne die stillschweigenden moralischen Übereinkünfte in Frage stellt, die unserem täglichen Miteinander zugrunde liegen, problematisiert er die gedankenlose Fortschreibung bestimmter sozialer Muster; er hinterfragt Konzepte, die sonst als selbstverständlich gelten.»
Der Schüchterne wäre mithin eine Art klandestiner Widerstandskämpfer, der sich der Teilnahme an der großen spätkapitalistischen Selbstdarstellungsschau verweigert − und sein gesellschaftliches Ver- oder besser Enthalten ein stiller Ausdruck der Nonkonformität, ein friedlicher Akt sozialen Ungehorsams. Die Schüchternheit ist eine Eigenschaft, die sich nicht ohne weiteres in die marktwirtschaftliche Logik unserer Leistungsgesellschaft einfügen lässt: Durch ihre Präsenz stellt sie das Idealbild des ‹normalen›, auf Durchsetzungsfähigkeit und Selbstdarstellung programmierten Homo oeconomicus in Frage. Indem der Schüchterne auf der Schwelle verharrt, lenkt er den Blick auf die Möglichkeit, dass es auch ein Außen, eine Alternative gibt.
Offenheit Der Schüchterne ist also beileibe nicht so handlungsunfähig, wie es den Anschein haben mag, im Gegenteil: Sein Zögern, sein Zaudern wendet sich höflich, aber bestimmt, in den Worten des Literaturwissenschaftlers Joseph Vogl, «gegen die Festigkeit von Weltlagen, gegen die Unwiderruflichkeit von Urteilen, gegen die Endgültigkeit von Lösungen». Indem der Schüchterne im Türrahmen stehen bleibt, verharrt er im Reich der Potentialität; er ist, um eine Formulierung von Giorgio Agamben zu verwenden, «totipotent»: Er könnte alles tun, er könnte alles lassen − er muss aber noch nicht einmal das tun. I would prefer not to .
Das Unvermögen des Schüchternen, sich zu entscheiden oder zu handeln, wäre also nicht so sehr die «Negation eines Vermögens», sondern, so die Philosophin Alice Lagaay, ein «eigenständiger Ermöglichungsgrund». Derjenige, der handelt, läuft nämlich nicht nur Gefahr, sich zu blamieren − er beraubt sich zugleich, gerade durch seine Handlung, aller anderen Handlungsmöglichkeiten. Mit jeder Entscheidung entscheidet man sich gegen eine Alternative, mit jedem Weg, den man einschlägt, wendet man einem anderen den Rücken zu. Der Schüchterne bleibt erst einmal am Scheideweg stehen. Er verharrt im Unbestimmten. Er belässt die Dinge in der Schwebe. Gerade, weil er sie noch nicht genutzt hat, stehen ihm alle Möglichkeiten offen.
Schücht rnheit Vielleicht ist es also an der Zeit, sich wieder auf die positiven Seiten der Schüchternheit zu besinnen − oder besser gesagt: auf die positiven Seiten einer Charaktereigenschaft, die im Lauf der Jahrhunderte, unter dem Druck der Geschichte, allmählich verschüttet worden und dadurch aus dem Blick geraten sind. Vielleicht erfordert dies ein
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