Schuechtern
beträchtliches Stück näher gekommen sein. Aber: Ist Schüchternheit tatsächlich so altruistisch? Profitiert das schüchterne Individuum nicht auch von seiner Befangenheit? Tatsächlich zieht der Schüchterne ja einen nicht unbeträchtlichen Krankheitsgewinn aus dem Gefühl, dass er der einzig Sensible unter Holzklötzen, eine Mimose unter tumben deutschen Eichen ist. «Je schüchterner einer ist, umso mehr setzen sich weniger Schüchterne gegen ihn durch», schreibt Martin Walser in seinem Essay Über die Schüchternheit : «Er verhilft also anderen zu Erfolgserlebnissen. Und darf sich besser vorkommen als die, die sich ihm gegenüber durchsetzen. Das ist die ins Durchsetz- und Konkurrenzwesen eingebaute Trostmoral.» Gerade aus seiner sozialen Randlage zieht der Schüchterne eine masochistisch grundierte Lust.
Letztlich ist nämlich auch der Schüchterne nicht frei von Eitelkeit und Selbstbewusstsein: Seine ständige Selbstdurchstreichung, seine ostentative Zurückhaltung, sein ohrenbetäubendes Schweigen stellen eine Art negativer Egozentrik dar, eine Eigenliebe, die sich im Gewand des Selbsthasses kaschiert. «Um betont schamhaft und schüchtern sein zu können», schreibt der Philosoph und Psychologe Josef Rattner, «muss man […] auch eine Portion ‹Narzissmus› im Seelenleben aufweisen. […] Jede leidenschaftliche Selbstkritik enthält unfehlbar ein narzisstisches Element; denn der Kritiker ist stolz darauf, dass er sich so vieler Fehler bewusst ist, indes seine primitiveren Mitmenschen in dumpfer Ahnungslosigkeit dahinleben.» So verwandelt der Schüchterne gerade seine größte Schwäche, zumindest vor sich selbst, in eine charakterliche Stärke.
Intensität Und vielleicht ist sein Stolz ja auch nicht ganz unberechtigt. Schließlich nimmt der Schüchterne nicht nur seine eigenen (tatsächlichen oder vermeintlichen) Fehler, sondern das Leben im Allgemeinen − gerade weil ihm Handlungen, die anderen als selbstverständlich erscheinen, so schwer fallen − besonders intensiv wahr. Was für andere Menschen dröge Routine darstellt, ist für ihn ein ausgewachsenes Abenteuer; was andere kaum bemerken, erscheint ihm schier unerreichbar und flimmert daher in besonderem Glanz. «Lächerliche und rührende Erinnerung: Der erste Salon, den man mit achtzehn Jahren allein und ohne Schutz betritt!», heißt es in Stendhals Rot und Schwarz : «Der Blick einer Frau genügte, um mich einzuschüchtern. […] Doch damals in der gräßlichen Qual meiner Schüchternheit, wie schön war da ein schöner Tag!»
Die Schüchternheit verseltsamt gewissermaßen die Alltagswelt. Sie legt einen zartrosa Schleier über das Einerlei, so wie die Schamesröte das Antlitz des Schüchternen umhüllt. Sie macht deutlich, wie kostbar, kompliziert und vergänglich unsere sozialen Beziehungen sind. Nur der Durstende weiß ein Glas Wasser wirklich zu schätzen, nur der, für den soziale Kontakte keine Selbstverständlichkeit darstellen, das Bad oder zumindest das behutsame Plantschen in der Menge. Vielleicht muss man erst durch das Fegefeuer der Angst gehen, um das Himmelreich der (guten) Gesellschaft zu erlangen. Vielleicht wird erst durch die Schüchternheit ein schöner Tag wahrhaftig schön.
Überblick Der Schüchterne ist nämlich, entgegen einer weitverbreiteten Auffassung, nicht unsozial. Im Gegenteil, er sehnt sich danach, unter Menschen zu sein, dazuzugehören, einzutreten − er verharrt nur eben etwas länger auf der Schwelle. Der Schüchterne befindet sich, auf seine Stellung innerhalb der Gesellschaft bezogen, also in einer liminalen Position; er ähnelt darin der Figur des Fremden, wie der Soziologe Georg Simmel sie beschrieben hat: Er ist seinen Mitmenschen gleichzeitig nah und fern, «ein Element der Gruppe […], dessen immanente und Gliedstellung zugleich ein Außerhalb und Gegenüber einschließt». Aufgrund dieser Doppelnatur verfügt er über ein besonderes Maß an Objektivität und Freiheit, das es ihm erlaubt, «auch das Nahverhältnis wie aus der Vogelperspektive [zu] erleben». Unablässig hinterfragt der Schüchterne seine eigene Position, wechselt den Standpunkt, versetzt sich bald in diese und bald in jene Rolle, beobachtet, vergleicht, bewertet, wobei er, bewusst oder unbewusst, ein Verhältnis kommunikativer Asymmetrie herstellt.
Der Schüchterne studiert die Gesichter der anderen, weicht aber selbst ihren Blicken aus. Er senkt den Kopf und verbirgt dadurch seine Mimik, er bringt
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