Schuechtern
stellen) − doch nicht einmal ein Drittel der Betroffenen begebe sich deswegen in Behandlung. «Das niedrige Problembewusstsein gekoppelt mit dem Unwissen über das wahre Ausmaß hinsichtlich Häufigkeit, Belastungen und Störungen in allen Gesellschaften und Schichten», so der Leiter der Studie, der Dresdner Psychologe Hans-Ulrich Wittchen, «ist das zentrale Hindernis für die Bewältigung dieser Herausforderung.» Mit anderen Worten: In der EU gibt es angeblich über hundert Millionen psychisch Gestörter, die sich unter einem trügerischen Schleier der Normalität verstecken; ja mehr noch, möglicherweise wissen sie nicht einmal selbst, dass oder wie sehr sie unter ihrer Störung leiden.
Wer sich für schüchtern hält, muss sich also eigentlich ständig fragen, ob er nicht in Wirklichkeit eine soziale Angststörung hat, die nur bislang nie als solche diagnostiziert wurde − gemäß dem altbewährten medizinischen Grundsatz: Ein gesunder Mensch ist nur einer, der nicht lange genug untersucht wurde. In den USA sind mittlerweile fast zwanzig Millionen Menschen aufgrund einer sozialen Phobie mit Psychopharmaka behandelt worden. In Deutschland stieg die Zahl der von den gesetzlichen Krankenkassen verschriebenen Tagesdosen an Psychostimulanzien innerhalb von nur fünf Jahren, zwischen 2005 und 2010, um mehr als fünfzig Prozent. Der Verbrauch an Psycholeptika − zu dieser Arzneimittelgruppe gehören angstlösende Mittel wie Alprazolam − nahm zwar nur unwesentlich zu, dafür stieg der durch ihren Verkauf erlangte Umsatz im selben Zeitraum um beinahe dreißig Prozent. Inzwischen beläuft sich der jährliche Umsatz bei diesen beiden Arzneimittelgruppen in Deutschland auf über zweieinhalb Milliarden Euro.
Kein Wunder, dass auch viele medizinische Laien inzwischen der Meinung sind, dass Schüchternheit etwas sei, das man besser wegmachen lassen sollte, wie Warzen, Zahnverfärbungen oder Fettpolster − oder doch immerhin etwas, das dem Individuum, wie die genannten körperlichen Defekte, beim Fortkommen in unserer kompetitiven, auf Selbstdarstellung ausgerichteten Gesellschaft empfindlich im Wege stehen kann. Um noch einmal meine anonyme, altersweise Gesprächspartnerin zu zitieren: Schüchtern darf man heute nicht mehr sein, sonst kommt man nicht durch.
Oder vielleicht doch?
Keine falsche Scham Manchmal stelle ich mir vor, wie meine Seele, mein Geist oder was auch immer meinem Körper bei seinem Ableben entfleuchen mag, nach meinem Tod vor das Himmelstor kommt − und sich dann dort genauso schüchtern und blöde anstellt wie damals, vor meiner Geburt, das zu meiner Entstehung bestimmte Spermium. Ich stelle mir vor, wie meine Seele sich unschlüssig am Rand der entsprechenden Wolke herumdrückt; wie sie aus respektvollem Abstand die unendlich lange Schlange beobachtet, die sich über den Hügel aus Wasserdampf, durch die angrenzenden Lüfte und bis in alle Ewigkeit hinzieht; wie sie sich zu guter Letzt überwindet, sich in diesen Reigen seliger Geister einzureihen; und wie sie dann, wenn sie endlich an der Reihe wäre, ans Himmelstor zu klopfen, doch der Mut verlässt. Vielleicht macht Petrus ja gerade Mittagspause und will nicht gestört werden? Und falls er wider Erwarten doch aufmacht: Was soll ich dem himmlischen Türhüter sagen, wenn er mich nach meinen guten Charaktereigenschaften fragt? «Äh, hm, tja… ich bin schüchtern?» Wird Petrus mich bei einer solchen Antwort nicht flugs zur Konkurrenz schicken, weil im Himmel für solche Feiglinge kein Platz ist?
«Wie lange willst du denn noch hier rumstehen?», will die selbstbewusste Seele, die hinter mir in der Schlange steht, wissen: «Ich hab nicht ewig Zeit!»
Doch, hast du, will ich sie höflich korrigieren, aber da höre ich schon vom Himmelstor her ein Geräusch. Ein Schlüssel wird im Schloss gedreht, ein Riegel zurückgeschoben, dann öffnet sich knarzend die Tür: Petrus schielt durch den Spalt, um zu sehen, warum es draußen so ungewöhnlich ruhig ist. Zum Glück bin ich bereits blutlos und leer, sonst würde ich jetzt erröten. Jetzt gilt’s, denke ich. Ich muss es ihm sagen. Warum sollte man auch als Schüchterner die Chance haben, das Himmelreich zu erlangen? Hat die Schüchternheit vielleicht doch etwas Gutes?
Normalität Fangen wir einmal ganz bescheiden an: Schüchternheit ist, zumindest solange sie nicht zu einer lebensbestimmenden, leidensintensiven Neurose auswuchert, weder gut noch schlecht, sondern schlicht
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