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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Werner
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spracharchäologisches Verfahren, ein beharrliches Grabbeln und Graben, ein Scharren in den Sedimenten der Sprachgeschichte − bis man schließlich, in den untersten semantischen Schichten, am Grund des Schachtes von Babel, auf ein paar verstaubte, beschädigte Bedeutungsfragmente trifft, die einmal zu dieser Charaktereigenschaft gehört haben und die möglicherweise wieder zu ihr gehören sollten:
    Be cheid nheit
    M tleid
    S nn für das r chte Maß
    Fei gef hl
    Rücksi ht
    − um nur einige zu nennen. Holen wir sie hervor, stauben wir sie ab, setzen wir sie wieder ein. Keine falsche Scham. Seien wir ruhig ein bisschen schüchtern.

Von der neuen Insel Aidotopia       Natürlich ist mir klar, dass es bis zu einer solchen Rehabilitation der Schüchternheit ein weiter Weg ist. Ich weiß, dass es immer Menschen geben wird, die für ein schüchternes Betragen einfach nicht gemacht sind, die unheilbar selbstbewusst sind, und das ist ja auch in Ordnung: Schüchternheit und Selbstbewusstsein sind nicht ohne einander zu haben, sie bedingen sich gegenseitig, sie gehören zusammen wie Licht und Schatten.
    Trotzdem stelle ich mir manchmal vor, wie es wäre, in einer Welt zu leben, in der man als Schüchterner nicht ständig das Gefühl haben muss, hinter den Ansprüchen und Erwartungshaltungen der dominanten Kultur zurückzubleiben… einer Welt, in der die Deutungshoheit nicht in den Händen der Selbstbewussten liegt… in der die Schüchternheit nicht das negative Supplement zum Zentrum, sondern schlicht die Normalität darstellt… kurzum: Ich träume von einer Welt, in der alle Menschen schüchtern sind. In Anlehnung an das altgriechische Wort für Schamhaftigkeit sowie an Thomas Morus’ berühmten Idealstaat nenne ich sie im Geiste ‹Aidotopia›.
    In Aidotopia gewinnen bei Abstimmungen stets die Kandidaten, die den unauffälligsten Wahlkampf geführt haben. Da sowieso nur diejenigen als Kandidat aufgestellt werden, die zu langsam waren, jemand anderem den Vortritt zu lassen, verlaufen die politischen Debatten in Aidotopia selbst nach landesüblichen Maßstäben äußerst höflich und ruhig.
    In Aidotopia liegen die ökonomischen Geschicke des Landes nicht in den Händen von ein paar aufgedrehten Koksern, sondern werden von besonnenen Johanniskrautteetrinkern geregelt. Feindliche Übernahmen fremder Unternehmen sind unbekannt, wer mit einer Firma fusionieren möchte, schreibt dem Aufsichtsratsvorsitzenden ein entsprechendes Gedicht.
    Überhaupt florieren in Aidotopia die Schönen Künste, da die Aidotopier alles, was sie nicht zu sagen wagen, in Versen, Gemälden und pantomimischen Darstellungen verarbeiten: Ein normaler Tag in einer aidotopischen Straße gleicht daher einer Mischung aus Kunstmesse und Straßentheaterfestival. Allerdings werden die dort dargebotenen Werke nicht als Kunst wahrgenommen, sondern gelten einfach als gewöhnliche Formen der Kommunikation.
    Die beliebteste Fernsehsendung des Landes heißt Der Superschüchterne und wird jeden Tag rund um die Uhr ausgestrahlt, auf dem einzigen existierenden Kanal. In der Sendung gibt es keine Jury, da kein Aidotopier bereit ist, sich dergestalt in den Vordergrund zu spielen. Auch die Kandidaten sind nie zu sehen, weil sie sich andauernd in der Studiokulisse versteckt halten − was, nebenbei bemerkt, auch die einzige Fähigkeit ist, die sie vorweisen müssen, weshalb in jeder Folge von Der Superschüchterne immer alle Kandidaten gewinnen.
    Begriffe wie ‹Schüchternheit›, ‹Scheu› und andere sinnverwandte Wörter sind in Aidotopia natürlich durchgängig positiv besetzt, und es gibt unter aidotopischen Jugendlichen kein größeres Kompliment, als jemanden oder etwas der Schüchternheit zu bezichtigen: Wie schüchtern ist das denn?! Die neue Platte von den Shy Guys ist wirklich phobisch! Das ist ja wohl die Hemmung! Ich glaube, ich krieg gleich Sozialangst!
    Die aidotopische Nationalsportart ist Tischtennis-Rundlauf; Schmetterbälle sind allerdings verboten, und alle Teilnehmer haben unendlich viele Leben. Die aidotopische Nationalpflanze ist die Mimose, das Nationalgericht ist ein bis zur Unkenntlichkeit im Teigmantel versteckter Apfel im Schlafrock, und die Nationalhymne ist vor allem sehr leise.
    Das Wappentier von Aidotopia ist natürlich die Schildkröte. Sie flattert auf der aidotopischen Fahne, sie ziert die Münzen und Geldscheine des Landes, und im Herzen der Hauptstadt, inmitten eines riesigen Freigeheges, wurde ihr vor Urzeiten ein Altar

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