Schuechtern
ganz alltäglich. «Ein gewisses Maß an Sozialangst», so der Psychiater Isaac Marks, gelte seit jeher als «vollkommen normal» und stehe keineswegs im Widerspruch zu einem «hervorragenden Funktionieren» innerhalb der Gesellschaft. Dass der Kontakt mit bestimmten Personen − Vorgesetzten, die einem kündigen könnten, Frauen, die einen küssen könnten, Fremden, die einen bei alldem beobachten könnten − mehr oder weniger stark angstbesetzt ist, sollte daher kaum der Rede wert sein.
Im Gegenteil, man könnte sogar sagen, dass gerade die Abwesenheit von Angst in solchen Situationen ein bedenkliches Anzeichen für eine dysfunktionale Persönlichkeit darstellt: Menschen, denen Gefühle der Scham, Scheu oder Schüchternheit fremd sind, fehlt, in den Worten des Psychologen Rowland S. Miller, ein wichtiger psychischer «Feedback-Mechanismus», der sie davor bewahrt, gesellschaftliche Normen zu verletzen. Sie laufen daher eher Gefahr als andere, sich zu «antisozialen Psychopathen» zu entwickeln; oder wie es Millers Kollege Ray Crozier in hemdsärmeliger Deutlichkeit formuliert: «Sie sind unsensibel, rücksichtslos oder gleichgültig» und erscheinen daher wahlweise als «‹schamloses Luder›» oder als «‹arroganter Hurensohn›».
Dennoch werden solche Luder und Hurensöhne vergleichsweise selten als sozial auffällig oder gar therapiebedürftig diagnostiziert – womöglich, weil sie einen Gutteil der sogenannten Leistungsträger unserer Gesellschaft stellen: Ohne ein gewisses Maß an Größenwahn und Rücksichtslosigkeit wird man es wohl kaum in den Aufsichtsrat eines DAX-Unternehmens oder eine politische Spitzenposition schaffen. Dass eine gewöhnliche Verhaltensdisposition wie die Schüchternheit hingegen als Problem wahrgenommen und bisweilen sogar als Krankheit stigmatisiert wird, sagt vermutlich mehr über unsere exposure culture und deren exhibitionistische Erwartungshaltungen aus als über das von Schüchternheit betroffene Individuum.
Möglicherweise ist unsere gesunkene Toleranz für soziale Befangenheit aber auch ein Indiz für die gewachsenen Perfektionsansprüche einer Gesellschaft, die für solche und andere Macken immer weniger Verständnis hat und sie daher am liebsten pharmakologisch, therapeutisch oder operativ entfernen, wenn nicht gleich im genetischen Keim ersticken möchte. Man muss sich nicht gerade die Position des blinden, an einen Rollstuhl gefesselten Hamm aus Samuel Becketts Endspiel zu eigen machen, der seinen − körperlich und seelisch kaum minder mitgenommenen − Mitspielern am Schluss des Stücks defätistisch zuruft: «Ihr seid auf der Erde. Dagegen gibt es kein Mittel!» Man kann sich aber schon fragen, ob ein gewisses Maß an Anomalität, Irrationalität und ja, auch Angst zum irdischen Dasein notgedrungen dazugehört.
Notwendigkeit Hinzu kommt: Schüchternheit ist nicht nur normal, sondern gesamtgesellschaftlich gesehen sogar unabdingbar. Ein schüchternes Verhalten trägt nämlich dazu bei, so Ray Crozier, «das gesellschaftliche Leben zu regulieren, und minimiert zugleich das Risiko gewalttätiger Konflikte sowie die Gefahr, dass die Aktivität innerhalb der Gruppe unwiderruflich zusammenbricht».
Anders gesagt: Es kann in einer Gesellschaft nicht nur Alpha-Tiere geben − man braucht auch Beta-, Gamma- oder gar Delta-Tiere, die sich gefügig dem Leithammel unterordnen und dadurch vermeiden, dass jede Auseinandersetzung gleich in einen tödlichen Beschädigungskampf ausartet. Oder vulgärhegelianisch gesprochen: Es kann nicht nur Herren geben, die den Kampf auf Leben und Tod suchen − man benötigt auch Knechte, die sich ihnen unterordnen (und dabei, nebenbei bemerkt, realwirtschaftliche Werte schaffen). Oder, auf die denkbar kleinste und urtümlichste Konkurrenzsituation, nämlich den vorgeburtlichen stand-off zwischen meinem Zwillingsbruder und mir übertragen: Wir konnten nicht beide zugleich geboren werden. This birth canal ain’t big enough for the both of us. Es kann nur einen Erstgeborenen geben. Vielleicht habe ich das schon damals intuitiv verstanden, meinem Bruder den Vortritt gelassen und dadurch uns beiden ein schmerzhaftes, dem reibungslosen Ablauf einer Geburt nicht gerade zuträgliches Gerangel am Muttermund erspart. Der Schüchterne gibt nach.
Empfindsamkeit Mit einer solchen auf die edle Selbstlosigkeit des Schüchternen abhebenden Argumentation dürfte meine Seele ihrem Einlass ins Himmelreich bereits ein
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