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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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zerreißt meinen Alptraum. Ich blinzle. Fische das Gerät mit fahrigen Fingern wieder unterm Sessel hervor.
    »Hallo?«
    Eine rauschunterlegte Stille bohrt sich in mein Ohr. Rauschen, Stille, Rauschen, vier Sekunden, fünf, sieben. Irgendetwas sagt mir, dass es diesmal nicht mein liebgewordener Terrorist ist, nicht der zweiminütige Telefonatmer, der einsame Wolf, diese Stille klingt anders. Schriller. So schrill eine Telefonstille eben klingen kann.
    Ich versäume es, mein zweites Hallo zu sagen, mich im Bett niederzulassen oder mich sonst wie in diesem Schweigen häuslich einzurichten. Ich wäre ohnehin nicht dazu gekommen. Mein Gegenüber legt schnell wieder auf. Ich betrachte die Wirbel der Gitarre. Wer immer am Telefon war, hat sich entweder verwählt oder wollte wissen, ob ich zu Hause bin. Endlich weg von dir. Ich berühre die roten Hüften des Instruments. Für gewöhnlich beruhigen mich seine vertrauten Formen wie die Anwesenheit eines Freundes. Heute funktioniert es nicht.
    Ich sehe mich um. Die viergeteilte Geisterlora ist verschwunden. Und die echte Lora, denke ich, fährt per Anhalter nach Berlin. Matti steckt Paprikastreifen in Saskias Mund und aus Versehen seinen Finger gleich mit. Damla klappt ihr pfirsichfarbenes Handy zu, legt Parfum auf und eilt zu dir. Mit trotzigem Schlafzimmerblick stellt sie sich deinem Türspion und klingelt. Ich sehe alles wie im Film. Wie einen Film kann ich es vorspulen, zurückspulen, in Zeitlupe oder im Schnelldurchlauf schauen. Nur abschalten kann ich es nicht. Auch wenn mein Kopf mir sagt, dass es tausendmal keine Rolle spielt. Ob Lora ihre Schuhe abstreift. Ob Matti unten dreckig lacht. Ob du Damla aufmachst oder nicht.
    Die Griffhand sinkt in meinen Schoß. Ich habe keine Rolle in diesem Film. Das sollte ihn sogar außerordentlich langweilig machen. Warum ich trotzdem nicht wegschauen kann, sogar gierig, süchtig diese Bilder aufsauge, Lora, die einem Lastwagenfahrer ihre Beine aufs Armaturenbrett streckt, Matti, der Saskias Schenkel knetet, Damla, die dir gleich bei der Garderobe einen bläst, wird mir erst langsam klar. Es ist wie im Fernsehen, belanglose Scheiße, meist meilenweit von der Realität entfernt, und trotzdem schaut man hin. Meine Stirn senkt sich der Gitarre entgegen. Das Bewusstsein, dass mich dieser Mist Stunden, Tage, Wochen und einen Sack voll Kraft gekostet hat, kosten wird, trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich knicke ein Stück weiter ein. Zu meiner Verteidigung, denke ich, läuft dieser Film nicht in einer primitiven Flimmerkiste, bei der ich nur den Ausknopf finden muss. Das Kino im Kopf ist wesentlich schwerer in den Griff zu kriegen.
    Mir fällt ein, dass ich als Kind einen Alptraum hatte, der sich einige Male wiederholte. Ich träumte von einem Fernseher, der sich nicht abschalten ließ. Ich drückte den Ausknopf, immer wieder, immer heftiger. Nichts geschah. Dann versuchte ich, wenigstens die Lautstärke zu verringern. Nichts. Das Gerät wurde sogar noch lauter. Als ich schließlich den Stecker aus der Wand riss und die Kiste weiterflimmerte, bekam ich es mit der Angst zu tun. Das Gerät war ein lebendiger Dämon geworden. Jedes Mal rannte ich in mein Zimmer, wollte mich verstecken. Aber auch dort konnte ich die Stimmen, den Lärm und das hochfrequente Piepsgeräusch hören.
    Wem immer ich das heute erzähle, schmunzelt darüber. Fernseher, die ich seit Jahren nicht mehr beachte, die nicht mehr piepsen, suchen mich schon lange nicht mehr heim. Als Kind jedoch war der Fernsehtraum ein echtes Stück Horror. Erst als Teenager hatte ich die Idee, nicht vor dem Monstrum wegzulaufen, sondern mich hinzusetzen und zu schauen, was es mir zu sagen hat. Bezeichnenderweise erinnere ich mich nicht, was in dem Traumfernseher eigentlich lief. Es muss furchtbar banal gewesen sein. Von diesem Tag an hatte ich den Alptraum nie wieder. Ich wünschte, all meine Probleme hätten sich so leicht in Luft auflösen lassen.
    Vielleicht ist es mit meinem Kopfkino dasselbe, denke ich, vielleicht sollte ich einfach nur schauen. Ich lege die Gitarre beiseite und fokussiere die Leinwand. Sofort flimmert eine Szene in der Halbtotale über mein Blickfeld. Damla poliert dir ordentlich den Schwanz, zusammen mit ihrer Paillettenfreundin, zum Beweis, dass sie nicht zimperlich ist. Die Frauen wechseln sich ab, knutschen, lecken, schlucken, machen niedliche Ächzgeräusche, wie in Hentaifilmen. Von dir ist außer Atmen nichts zu hören. Die Bilder sind kontrastreich

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