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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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benutzt er seine Zunge. Unsere Zwiesprache geht von Hirn zu Hirn, ungehindert, wie die Blicke von Auge zu Auge fliegen. Es ist eine äußerst effiziente Art der Kommunikation, so schnell, dass ich außerstande wäre, die verzweigten Impulse, die komplexen Gedankenmuster in Worte zu fassen. Wir malen uns gegenseitig mit weißer Tusche Federgrafiken ins Hirn, zehn Dutzend feinster Striche pro Sekunde. Ich bin fasziniert von dieser Art der Unterhaltung und frage mich, warum ich nicht schon früher damit begonnen habe.
    Plötzlich fliegt im hinteren Restaurantteil ein Vorhang beiseite. Eine Frau stürmt auf unseren Tisch zu. Der Mann mir gegenüber hebt die Augenbrauen. Meine weiß geschminkten Wimpern huschen mir beim Blinzeln durchs Blickfeld. Auf halbem Wege bleibt die Frau stehen. Es sieht aus, als fürchte sie, sich in unserer Nähe zu verbrennen, an der Tischkante, an der Luft, die wir atmen. Ich strecke eine Hand nach ihr aus, will sie an den Tisch einladen. Sie schreit mich an. Wer bist du, schreit sie. Was bist du. An meiner statt antwortet der schlitzäugige Mann. Er antwortet in unserer Kopfsprache. Ich bin die Krücke, sagt er, der Handschuh, die Maske eines eitlen Gottes. Ein hohles Gebrauchsding. Ich werde aufgerieben, abgenutzt, verbraucht. Ich bin ein Docht, der willig glüht.
    Die Frau rennt nach draußen und verschwindet im Regen. Ich glaube nicht, dass sie uns verstanden hat. Von ferne werden Sirenen laut. Ich wache auf.

Taubenmist
    Laut Kalender war vor knapp zwei Wochen Herbstbeginn, aber heute ist der erste Tag des Jahres, der sich wirklich wie ein Herbsttag anfühlt. Am Morgen hing Nebel überm Fluss. Mittags war das Licht silbrig statt golden. Auch der Nachmittag behält sich in seinen Schatten und Winkeln eine gewisse Kühle vor. Feinkost Dilber, das Messingschild ist heute nicht poliert, sondern von einem feinen Oxidationsschleier überzogen.
    Mit einer Hand umklammere ich eine Weinflasche, die ich aus Borgs Sammlung genommen habe. Sie schien mir die exotischste, Zinfandel, California, steht auf dem Etikett. Außerdem hatte Borg sechs Flaschen davon gelagert, also kann der Wein nicht so schlecht sein. Ich will mich schließlich nicht blamieren. Die andere Hand spielt in der Manteltasche mit zwei Stücken Buntpapier.
    Im Vorbeigehen werfe ich einen Blick in das spiegelnde Schaufenster, letzter Optikcheck. Mein Haar scheint in Ordnung. Ich bringe meine Schritte auf die richtige Länge, bugsiere mein Ego in die richtige Position. Taste die innere Landkarte ab. An der Stelle, wo meine Seele sitzen sollte, tummelt sich ein Jahrmarkt der Eitelkeiten.
    Ich betrete das Feinkostgeschäft, den kalifornischen Wein wie ein Schutzschild vor mir hertragend. Beinahe bleibe ich an einer Auslage kandierter Erdbeeren hängen. Eine andere Verkäuferin als beim letzten Mal eilt durch den Laden. Eine gut gekleidete Kundin studiert die Schokoladen. Sonst ist niemand da.
    Ich stelle mich vors Weinregal und studiere die Etiketten. Mein Kalifornier ist erwartungsgemäß nicht dabei. Bald kommt mir die Verkäuferin zu Hilfe. Ich halte ihr die Flasche hin, das sei der Lieblingswein eines Bekannten, ob sie den für mich bestellt kriege. Sie überfliegt das Etikett.
    »Den hatten wir noch nie. Einen Moment. Da muss ich die Chefin fragen«, sagt sie.
    Ich erschrecke ein bisschen. Die Chefin. Mein Plan funktioniert. Die Verkäuferin verschwindet in der Tür hinter der Ladentheke. Weil sie die Tür hinter sich offen lässt, kann ich sehen, dass alles unverändert ist, gefliester Flur, Pappkartons, Telefontisch. Es dauert nicht lang.
    »Chefin kommt gleich«, sagt die Verkäuferin beflissen.
    Sie lässt meine Weinflasche auf dem Ladentisch stehen und wendet sich der anderen Kundin zu. Mit halbem Ohr verfolge ich ihr Gespräch über Kakaosorten und Gewürze. Ich streife unruhig durch die Regale. Bin so nervös, dass ich aufpassen muss, die zwei Buntpapiere in meiner Manteltasche nicht zu zerknittern. Es ist dasselbe pinkfarbene Papier, das ich vor einigen Wochen Saskia in die Hand gedrückt habe. Ich will Damla zwei Freikarten schenken.
    Endlich bewegt sich hinterm Tresen wieder was. Eine etwa fünfundfünfzigjährige Frau kommt in den Verkaufsraum. Sie hat weder blondes Perserkatzenhaar noch Patschefinger, stattdessen rot gefärbte Locken und große Klavierhände. Nur die schwingenden Hüften hat sie mit Damla gemeinsam. Die rotlockige Matrona tritt dicht an mich heran, begrüßt mich direkt auf die Nasenspitze zu, gehört

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