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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume
Autoren: F Kanzler
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ich brauchte einen Unterschlupf. Da mochte der Wagen noch so vollgetankt sein und die Meersehnsucht groß. Von der Bushaltestelle aus brauchte ich ungefähr eine halbe Stunde zu meiner Großmutter, die immer eine offene Kellertür und frisch bezogene Gästebetten hat.
    Bereits nach vierundzwanzig Stunden unter diesem Dach hat sich das alte Gefühl des Zuhauseseins wieder eingestellt. Zwar bin ich nicht mehr das Vorschulkind von damals, bediene den Herd wie selbstverständlich selbst, gehe ohne Ankündigung aus und ein, bin zum Frühstück nicht anwesend und putze meiner Großmutter auch mal die Dusche. Aber alles andere ist gleich geblieben. Die Gewissheit, hier wohnen, mich mit meinen Siebensachen vom Keller bis in den Dachboden ausbreiten zu dürfen. Bleib, solang du willst, sagt meine Großmutter immer, nimm dir, was du brauchst.
    Sie ist bereits ins Bett gegangen. Ich hole mir Tee und Früchtebrot aus der Küche. Ich stelle mir vor, wie du Damla vielleicht gerade im Moment die Freikarten unter die Nase hältst. Stelle mir vor, du zu sein, ihre Bedrängung zu lindern, ihren Nacken zu massieren. Ich frage mich, ob sie sich küssen lässt, während der pinkfarbene Schandfleck auf ihrem Nachttisch liegt.
    Ich fische den Teebeutel aus der Tasse. In der Liebe kann man sich nicht lächerlich machen, denke ich. Nur unglücklich. Ich beiße in das Früchtebrot. Unglücklich bin ich nicht.
    Anschließend hole ich die alte Akustikgitarre aus dem Toyota, stimme sie und spiele ein paar Routinen rauf und runter. Als ich damit einigermaßen zufrieden bin, beginne ich in den Büchern meiner Großmutter zu blättern. Wieder eine Idee, auf die ich als Kind nicht gekommen wäre. Die Buchrücken, teils zerlesen, teils goldbedruckt, waren ein Teil der Tapete für mich gewesen. Heute haben die Bücher zum ersten Mal bedruckte Seiten, ein Innenleben. Historienromane, Erbauliches, Pflanzenbestimmbücher. Ich nehme ein dickes grünes Gartenbuch aus dem Regal. Kletterhortensie, lese ich, Feuerbohne, Duftwicke, Passionsblume, und sehe mir die Bilder an.
    Als ich das Buch zurückstelle, erwacht eine Fliege, die an der Wohnzimmerwand geschlafen hat. Sie schwirrt träge durch den Raum und landet auf der Alufolie, die das Früchtebrot umhüllte. Es ist so leise im Haus, dass ich das Tippeln der Fliegenfüße höre. Filigran, unendlich leise, Fliege auf Alu, mein neues Lieblingsgeräusch, denke ich.
    Plötzlich tritt Moritz aus meiner Vergangenheit ins Lampenlicht. Er hat kleine Turnschuhe an, ein gelbes Polohemd und sonst nichts. Seine Schenkel ragen darunter hervor. Er trägt den Kochlöffel meiner Großmutter in der Hand, den wir früher als Zepter, als Schwert, als Gerte benutzten. Bevor er wegrennt, streckt mein Bruder ungläubig das Küchengerät in meine Richtung, lacht. Ich verbringe die Nacht mit den kleinen Drogen, Schokolade, Wein, ein kubanischer Zigarillo. Ein kurzes Saugen klingt wie ein Kinderkuss.

Kurkumagelb
    Im Moos steckt noch ein Rest Nachtfrost. Durch die Kniestücke meiner Jeans dringt kalter Tau, als ich mich niederlasse, um die letzte Gartenblume zu betrachten. Sie ragt aus einem krautigen Beet wie eine niedrig stehende Herbstsonne. Ich möchte klein sein, denke ich, so klein, dass ich mich auf einer Landkarte verirren könnte. So klein, dass dieser Blütenkorb als Bett dienen könnte.
    Von drinnen ruft meine Großmutter. Ich wische notdürftig die nassen Knie ab und trabe hinüber zum Haus. Mit Verschwörermiene steht meine Großmutter in der Terrassentür.
    »Besuch für dich«, sagt sie.
    Hinter ihr ragen zwei breite Schultern auf, ein dunkelrotes Hemd, ein schwarzer Rabenschopf. Du hast hier nichts verloren, denke ich. Du stehst auf ihren Perserteppichen wie ein orientalischer Dieb.
    »Macht es euch bequem«, sagt meine Großmutter, »hier ist Tee. Ich komme später ein bisschen zum Plaudern. Die Jacke kannst du mir geben.«
    Ich lausche dem Knautschen des Leders, als meine Großmutter deine Jacke im Flur aufhängt. Dann dem Knarzen der Holztreppen, als sie im oberen Stockwerk verschwindet. Ich setze mich auf eins der espressobraunen Araberpferde.
    »Was willst du hier? Wie lange bleibst du?«
    »Solange du willst. Ich habe Urlaub.«
    Ich streife meine Schuhe ab, gleite auf die Sitzfläche und schlage die Beine unter.
    »Solange ich dich aushalte«, sage ich.
    Du setzt dich spiegelverkehrt zu mir auf den Boden. Rückst dicht an den Sessel. Du studierst mein blaues Auge, den frisch verheilten Riss in der Lippe. Um
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