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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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auch die dünnen Schultern unter. Ich konnte seinen Kopf in der Dunkelheit kaum mehr erkennen. Meine Augen schmerzten vor Anstrengung. Irgendwann war er ganz verschwunden.
    Ein Schauer überlief mich. Wie aus einer umgestoßenen Flasche gluckerte eine Faszination über meinen Nacken, in meinen Schoß, eine dunkle Flüssigkeit, ein Gemisch aus Panik und dem Wissen, dass ich nichts tun konnte, nur schauen. Noch mindestens fünf Minuten kauerte ich da. Der kleine Munitionssucher tauchte nicht wieder auf. Ich rannte zur Ferienwohnung meiner Eltern und kroch tief unter meine Bettdecke.
    Dass mein Freund mich am nächsten Tag quicklebendig, ein paar Muscheln jonglierend und mit blitzenden Knopfaugen angrinste, nahm der Nacht nichts von ihrer Bedrohlichkeit. Zwiespältige Gefühle, Bedrückung, etwas Schuld, eine unbändige Freude, nicht selbst im Meer versunken zu sein, und die kalte Faszination für die Unumkehrbarkeit der Dinge. Ein bisschen von derselben Faszination packt mich, wenn ich daran denke, wie du langsam aus meinem Leben verschwindest. Wie mein kleiner Freund marschierst du zielstrebig an einen Ort, wo ich nicht leben kann. Nicht leben will. Was ich für so selbstverständlich hielt, deine Bewunderung, den Sex, deine Hingabe, und meine Begeisterung für alles, was du tust, geht zentimeterweise, schrittweise mit dir verloren.
    Eigentlich wollte ich ans Meer fahren. Wollte schon in den frühen Morgenstunden losfahren. Aber die Züge waren teuer, und einen Wagen, den ich zwei Wochen lang hätte behalten dürfen, fand ich nicht. Ich kann von Glück sagen, den alten Toyota überhaupt aufgetrieben zu haben. Der gehört Matti. In fünf Tagen will er ihn zurück. Im Kofferraum liegt neben der Reisetasche eine abgewetzte Akustikgitarre. Ich will nicht ganz ohne Übung bleiben.
    Seit etwa einer Stunde bin ich unterwegs. Die Vororte haben der Toyota und ich hinter uns gelassen, die Industriegebiete, den staubigen Speckgürtel der Stadt. Neben der Bundesstraße huschen nur noch gelegentliche Raststättenlichter oder trüb beleuchtete Lagerhallen vorbei. Langsam wird mir klar, dass ich keine Ahnung habe, wo ich schlafen werde. Oder wohin ich will. Hätte ich einen Mitfahrer, würde ich es wie mein Vater machen, nicht schlafen, bis Sand unter den Reifen knirscht und ich das Meer riechen kann. Aber ohne Zeugen sind solche Heldentaten nur halb so episch. Mir selbst muss ich nichts beweisen. Im Notfall muss ich auf der Rückbank schlafen, denke ich. Schon beim Gedanken daran beginne ich zu frieren. Beim Losfahren, triumphale Klaviermusik flutete das Innere des Wagens, hatte all das keine Rolle gespielt.
    Ich nehme die nächste Ausfahrt. Der erste Ort, den ich durchquere, ist eine Ansammlung von Bauernhöfen und Exbauernhöfen. Der zweite Ort hat immerhin eine Bushaltestelle. Ich steige aus und versuche aus dem kleinen Zonenplan schlau zu werden. Erst als ich endgültig durchgefroren bin, komme ich auf die Idee, in Mattis Handschuhfach nach einer Karte zu suchen.
    Ich klettere zurück in den Toyota. Im fahlen Licht der Deckenlampe falte ich eines der drei zerfledderten Papierbündel auf, die ich unterm Beifahrersitz finde. Ich werfe einen Blick auf das Datum der Drucklegung. Neunzehnhundertneunzig. Die grüngelben und zartroten Markierungen verraten mir, dass der Landstrich, in dem ich mich befinde, tagsüber eine schöne Gegend zum Wandern und Radfahren ist. Oder es zumindest neunzehnhundertneunzig war. Ansonsten finde ich keine Inspiration in den kolorierten Flächen, den winzigen Symbolen und Schriftzügen. Ich weiß auch nicht, was ich erwartet hatte.
    Ich lasse ein Stoßgebet an die Götter los, dass ein ausgerissener Teenie ums Eck kommt, mit Sack und Pack auf dem Rücken, den ich in den Wagen setzen und ans Meer schaukeln kann. Dessen ungläubigen Blick ich langsam in ein zutrauliches Lächeln verwandeln könnte, der mich abgefahren findet und dessen Lippen nach Pfefferminzbonbons und Zigaretten schmecken. Weitere zwanzig Minuten sitze ich sinnlos herum. Langsam wird es auch im Inneren des Wagens kalt. Es kommt natürlich keiner.

Fliegenfüße
    Ich knipse die Leselampe meiner Großmutter an. Das sanftgelbe Licht fällt auf die Sessellehnen, die früher Pferde waren, zwei espressobraune Araber, einer für Moritz, einer für mich. Im Orchideendschungel auf der Fensterbank abenteuerten damals unsere Playmobilfiguren, draußen im Garten wir.
    Letzte Nacht, mein Stolz hatte sich geschlagen gegeben, es hatte nichts geholfen,

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