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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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aber durch«, sagst du.
    Ich schweige. Halte meine Worte mit Gewalt im Mund. Unbedacht beiße ich mir auf die Lippe. Mit einem scharfen Stich springt die Wunde wieder auf.
    »Ach fuck«, sage ich.
    »Nein, ehrlich, da spinnst du rum«, erwiderst du.
    »Nein, nein«, beeile ich mich zu sagen, »nicht deswegen. Ich hab mir nur gerade die kaputte Lippe wieder aufgebissen.«
    Das folgende Gespräch ist eine Aneinanderreihung von Ausweichmanövern. Wir steuern einen Vermeidungskurs durch Nebelfelder. Unsere Stimmen sind ein unheimliches Echo ihrer selbst. Es fällt mir schwer, dem Gespräch zu folgen. Einmal versuchst du, einen Haken zu mir herüberzuwerfen, fragst, wann ich dich wieder besuche. Aber ich weiß es nicht, will es nicht wissen, und wir driften weiter galant aneinander vorbei. Hängen in den Seilen des Gesprächs wie erschöpfte Seemänner. Irgendwann legen wir auf.
    Ich werfe einen Blick auf meinen Kalender. Eigentlich ist dieser Kalender nur ein zusammengeklebtes Etwas aus vier karierten Blättern Papier. Mit zwölf Spalten für die Monate, die wiederum in Tage unterteilt sind. Das ergibt zwei auf acht Kästchen, vier Quadratzentimeter, für jeden Tag. Die meisten Tage sind bekritzelt, Termine, Notizen, nicht vergessen. Diese Kritzeleien eilen mir im Kalender voraus wie eine Bugwelle. Der Wunsch, in eine unbekritzelte Zeit einzutauchen, überfällt mich immer öfter. Ich fahre mit dem Finger über die nächsten Tage. Verwische ein paar Bleistiftkrakel. Immerhin, denke ich, sind in den nächsten zwei Wochen keine Konzerte geplant, und wenn ich die unwichtigen Termine streiche, bleiben nur ein Gastauftritt beim Uniradio und ein Mittagessen mit dem Grafiker übrig.
    Ich zögere nicht lang. Ich tippe zwei Nachrichten. Es ist so weit, Anker lichten, jetzt oder nie. Ein paar Jeans, Shirts und Pullover sind schnell in einer Reisetasche verstaut. Ich habe noch nie so Knall auf Fall gepackt.

Treibstoff
    Meine Geschichte riecht nach Benzin, denke ich, als mir ein Schwall Treibstoff über die Hände rinnt. Und nach Moos und nach Männerhemd. Rasch pflanze ich den Hahn tiefer in die Tankklappe, drücke zu und höre der Zapfanlage beim Summen zu. Ich bin allein auf der kleinen Insel aus Neonlicht. Fast allein. Der Tankwart ist über einer Zeitung eingenickt.
    Ich habe nie jemandem erklären können, warum der Geruch von Benzin mich beruhigt. Jetzt würde ich es gern dir erklären, aber du bist nicht da. Nein, halt. Ich bin es, die nicht da ist.
    Vielleicht waren es die Tankstopps, wenn mein Vater in kurzen Hosen an der Zapfanlage stand, nach dem Bezahlen manchmal Eis oder Frühstück mitbrachte, den Motor wieder anließ, um seine Familie in den Urlaub zu schaukeln. Mein Vater schlief und ruhte nicht, bis sich irgendein Meer vor uns auftat, bis die salzige Luft und das Geschrei von Möwen in unsere bis zum Anschlag aufgekurbelten Fenster drang.
    In einem dieser Urlaube, zwei Jahre nach Moritz’ Verschwinden, fand ich einen Freund. Er hatte kohlschwarze Knopfaugen, seine Hände waren in ständiger Bewegung, er schwang krumme Stecken, die er aus dem Treibgut zerrte, warf Steine ins Wasser, rupfte hartes Ufergras. Er war einen Kopf kleiner als ich und hegte ständig Kriegsfantasien. Also spielten wir Krieg, immer wieder Krieg, mal fochten wir auf derselben Seite, mal gegeneinander.
    Eines Nachts, unsere beiden Elternpaare saßen Wein trinkend in einem nahen Restaurant, trotteten mein Freund und ich gelangweilt am Strand entlang. Der knopfäugige Junge drehte Kronkorken und alte Kippen zwischen den Fingern, machte mit den Lippen immer wieder halblaute Explosionsgeräusche. Schließlich legten wir uns in dem Lager, das wir hinter einem toten Baumstumpf gebaut hatten, auf die Lauer.
    Dann sagte mein Freund, er müsse den Strand nach Munition absuchen. Ich machte mich an der Rückwand des Lagers zu schaffen, besserte das Geflecht aus Treibholz aus. Als ich mich wieder umdrehte, war der Strand leer, mein Freund verschwunden. Zumindest dachte ich das. Bis ich seinen Kopf sah, draußen im Meer, ein winziger Schopf, der sich kaum von den dunklen Wellen abhob, darunter schemenhaft sein schmächtiger Rücken, schon halb im Wasser verschwunden. Im selben Moment drehte mein Freund sich um. Für eine halbe Sekunde nur, zu kurz, um zu winken, um fragend meine Arme in die Luft zu werfen. Er ging einfach weiter. Wie versteinert hockte ich im kalten, groben Sand, beobachtete, wie sein kleiner Körper im Wasser verschwand. Bald tauchten

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