Schüchternheit der Pflaume
deine Mundwinkel zuckt etwas. Du lässt den Kopf gegen meine Schienbeine sinken. Von oben höre ich meine Großmutter singen und summen. Der Tee dampft unberührt vor sich hin. Meine Hand wandert in deinen Nacken, ganz von allein, an die stoppelige Kante deines Kinns. Du lässt dich kraulen wie ein Hund.
Worte kommen erst einige Minuten später. Du schlägst dein Hiersein, dein Bleiben, in die Formen rauer Satzbrocken, sprichst wenig, aber bestimmt. Ich nicke nur. Als wir später meine Großmutter fragen, ob du ein paar Tage bleiben darfst, sieht sie nicht einmal überrascht aus.
»Mit euch komm ich klar, solange ihr mit meiner Witwenrunde am Freitag klarkommt«, antwortet sie und schmunzelt in unsere fragenden Gesichter.
Ihre Mädchenaugen leuchten, und es würde mich nicht wundern, wenn sie gleich einen ihrer Songzeilensätze anbringt. Stattdessen tippelt sie in die Küche und holt einen Sack Karotten. Sie schält und reibt. Du bietest deine Hilfe an. Sie schüttelt den Kopf, die jungen Leute sollten sich ruhig mal ausruhen.
Beim Zurücklehnen fischst du ein Kissen hinter deinem Rücken hervor. Ich sehe aber kein Kissen, sondern einen grünen Samtturban. Du legst ihn in deinen Schoß. Mein Bruder hat den Turban oft getragen, als Sultan, als Maharadscha, als Schah von Persien. Meine Großmutter fragt nach deinem Job und deiner Wohnung. Ich hocke auf einem abgeschabten Orientteppich, halte mich an seinem Fransenrand fest, als könne er jeden Moment losfliegen. Palastgeschichten, Basardüfte, kurkumagelber Wüstensand. Als wäre ich zurück in den Ferien.
Heißgewässer
Wie immer, wenn wir eine Brücke überqueren, bleiben wir in der Mitte stehen. Meine Hand umschließt ein moossprenkeliges Geländer. Es ist nur ein kleines Rinnsal, das den Sonnwendweg, in dem meine Großmutter wohnt, vom Lorettoweg trennt. Sonnwendseitig liegt ein Streifen Wiese, der seine Süßgraspinsel ins Wasser dippt, darunter, auf sandigem Grund, glitzert der Glimmer. Einzelne Laubblätter haben sich im Sand festgesetzt, sind schwarz geworden, liegen da wie ölige Flecken.
Auf irgendwelchen Wegen gelangen wir zurück zu den Endlosgesprächen, die wir im letzten Winter führten. Wir kreuzen Meinungen wie Schwerter, nicht um zu verletzen, sondern aus Freude am Klingensirren, am Kräftemessen, aus Lust an der Beweglichkeit. Alles gehört dazu, das Schweifen der Hände, das Schwingen der Mäntel. Der Augenblick ist rund. Wie wir das Manöver zurück in die alten Gewässer geschafft haben, weiß ich nicht. Die Zeit erscheint mir lange her. Vielleicht sind es auch neue Gewässer. Ganz neue.
Ein Brunnen steht ein Stück weiter die Straße hinunter, ein Sandsteintrog, rotgrau und sarggroß. Aus seinem Kupferrohr fließt ein gleichmäßiger Strahl in den Trog. Als Kind beschloss ich, dass dieser Brunnen aus allen Brunnen der Welt nun meiner wäre. Sein schmuckloser Korpus reizte mich mehr als die goldlasierten Springbrunnen in den Parks und Stadtmitten. Außerdem hingen die Stadtbrunnen immer voller fremder Kinder, eisessender und sabbernder Kinder, und voller abgenagter Apfelgehäuse und Müll. Besonders das Pflaumenlaub hatte es mir angetan, wovon jeden Herbst etwas auf dem Steintrog schwamm, genauer gesagt die Tropfen, die auf den Pflaumenblättern liegen blieben, jeden Herbst. Sie trieben als silberne Perlen auf den Blätterschiffen hin und her. Wie die Unterseite der Tropfen auf der Blattoberfläche anlag, eine glänzende Haut, wie geädertes Quecksilber, ich erinnere mich genau. Als wir den Brunnen passieren, muss ich nachsehen. Die Silbertropfen sind auch heute da.
Solche Wasserperlen gab es auch im Hof meiner Grundschule. Dort wuchs Frauenmantel auf den Begrünungsinseln, auf seinen Blättern ließ sich der silberne Tau besonders gut einfangen. Ziel war es, möglichst große Wasserperlen zu sammeln, sie nicht zu verlieren, nicht zwischen den Fingern verrinnen zu lassen. Man musste wissen, wann man aufhören musste, ab einer gewissen Größe war das Zerfließen unvermeidbar.
Wir folgen dem Bachlauf bis hinaus auf die Felder. Eine Bisamratte schlängelt sich durchs Wasser. Irgendwann fährt deine Hand in die Manteltasche. Du betrachtest dein Mobiltelefon. Mit einem Stirnrunzeln gestehst du mir, dass Damla dir in den letzten vierundzwanzig Stunden sechs Nachrichten hinterlassen hat. Du würdest ihr gern antworten. Nur kurz. Ich nicke. Ich gehe ein paar Schritte zur Seite, lutsche an meiner Zunge und schweige. Zum ersten Mal löst die
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