Schützenkönig
Relaxing-Öl, Beine rasieren und eine Drei-Fragezeichen-Kassette. Ihre Laune stieg bei der Vorstellung an beinahe vierzig Grad heißes Wasser und die Stimme vom neunmalklugen Justus Jonas sofort.
Elisabeth Upphoffs Laune befand sich zur gleichen Zeit im deutlichen Abwärtstrend. Sie aß gerade geräucherten Schinken, zwei gekochte Eier und vier Brötchen – alleine. Es schmeckte ihr nicht.
Während Viktorias Tag in einem trägen Dämmerzustand vorüberging – zum Glück musste sie nur ein paar Polizeimeldungen umschreiben –, wurde Elisabeth Upphoff immer wacher. Wie einer der trommelnden Hasen von Duracel trippelte sie in ihrem roten Klinkerhaus vom Wohnzimmer mit dem noch gedeckten Frühstückstisch in die Küche, von der Küche auf die Terrasse und wieder zurück. Sie wusste nicht, wohin mit ihrer Wut, und so lief sie. Hin und her und hin. Ihre Gedanken überschlugen sich. Dreißig Jahre lang waren Ferdinand und sie nun zusammen. Sie hatten dieses Haus zusammen gebaut, sie hatten die Kinder groß gekriegt – Nicole hatte eine gute Position bei der Stadt und Frank eine sichere Stelle bei der Post. Sie und Ferdinand führten ein Leben, wie es in Westbevern, mitten im ruhigen Westfalen, üblich ist: gemächlich, beständig, ehrlich und möglichst ohne Aufregungen. Und so fand es Elisabeth normal, dass Ferdinand ein paar Jahre nach ihrer Hochzeit und ein paar Monate nach der Geburt von Nicole aufgehört hatte, ihre Knie zu kitzeln. Sie waren ja auch nicht mehr so zart: Wassereinlagerungen durch die Schwangerschaft.
Sie vermisste es zwar, aber wozu aufregen? Ferdinand war ein guter Mann. Auch wenn er ihr keine Komplimente mehr ins Ohr flüsterte wie früher und sein jungenhafter Charme zusammen mit seinen Haaren verschwunden war. Sie waren ein gut eingespieltes Team, eine Familien-AG. Jeder hatte seine Aufgabe: Wäsche waschen, Rasen mähen, Aldi, Neukauf, an warmen Wochenenden auch mal Grillen. Routine, ja. Aber sicher und klar und ohne Schnörkel. Und einmal im Jahr war es ja sogar noch da. Das Kribbeln, das Herzklopfen. An ihrem Hochzeitstag, da war Zeit für die Erinnerungen. Dann kicherte Elisabeth beim Gedanken an ihre verliebten Treffen vor ihrer Verlobung. Im Wäldchen neben dem Schützenplatz hatten sie sich geküsst, und es war viel aufregender gewesen, als sie es gedacht hätte. Und Ferdinand hatte zum ersten Mal die Knie seiner Frau gekitzelt. Ganz zart und mit Erfolg. Denn Elisabeth wehrte sich danach auch nicht mehr, als er mit zitternden Händen ihre Bluse aufknöpfte. Ach damals! Sie schauten sich an ihrem Hochzeitstag immer die alten Fotos an, und Ferdinand sagte jedes Jahr: »Wie Jackie Kennedy sahst du aus. Mann, Elli, war ich stolz!« Elisabeth wurde immer noch rot, und auch wenn er es ihr schon lange nicht mehr sagte, so wusste sie genau in diesem einen Moment, an genau diesem Tag, an jedem 15. Mai, dass ihr Mann sie liebte.
Doch jetzt, an diesem 15. Mai wusste sie es nicht mehr. Und während sie das Gefühl hatte, den Boden unter ihren Füßen zu verlieren und in den Abgrund zu stürzen – machte Ferdinand Mittagspause. Er hatte Hunger, weil er morgens nichts gefrühstückt hatte, weil der neue Wecker nicht funktioniert und er verschlafen hatte.
Wer weiß, vielleicht wäre auch da noch Viktorias Lebenslinie geradlinig geblieben wie bisher, wenn Ferdinand am Abend nach dem Verschlafen nicht direkt nach der Arbeit – er war Fliesenleger – zur Versammlung des Schützenvereins Westbevern e. V. gegangen und mit etwa drei Liter Bier und fünf Korn in seinem Blutkreislauf nach Hause gewankt wäre. Vielleicht wäre Viktorias Leben vierhundertachtundsechzig Kilometer entfernt auch weiter so verlaufen, wie es die letzten zweiunddreißig Jahre verlaufen war, wenn Ferdinand, als er neben Elisabeth im Bett lag, gesagt hätte: »Tut mir leid, Schatz.« Doch er schnarchte, als sie flüsterte: »Du hast unseren Tag vergessen.«
»Sehr geehrte Frau Latell. Heute ein paar Minütchen Zeit für den Herrn? Er wird um zwanzig Uhr da sein. Sie werden ihn an der Flasche Rotwein erkennen.«
Es war Konstantin, der Viktorias AB und sie selbst zum Leuchten brachte, als sie am Abend die Wohnungstür aufstieß.
»Sorry, Badewanne und Justus Jonas! Wir treffen uns ein anderes Mal.« Sie hatte noch zehn Minuten, bevor er klingeln würde. Obwohl sie ja eigentlich wusste, dass sie noch dreißig hatte, denn er kam immer zu spät. Sie rieb die Dusche trocken, packte den Rasierer weg, die Haare hatte sie nicht
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