Schützenkönig
gewaschen. Auf keinen Fall sollte er merken, dass sie seinetwegen Körperpflege betrieben hatte. Schnell noch ein T-Shirt anziehen, das nachlässig genug, aber trotzdem taillenbetont saß, dazu die weite schwarze Cargohose, Gefährliche Geliebte locker aufschlagen und die Socken aus, damit er die tiefroten Fußnägel sah.
Er sah sie nicht. Stattdessen schauten sie fern, er schlief auf dem Sofa ein, und sie saß daneben. Müde, restverkatert und ratlos. Was ist das? Was mache ich hier?, fragte Viktoria sich im Stillen – Justus Jonas hätte sicher eine Antwort gehabt.
Vier Wochen später, als Viktoria im Zug nach Westbevern saß, hatte sie immer noch keine gefunden.
Nach seinem Sofaschlaf hatte sie Konstantin noch zweimal getroffen. Einmal kam er spät nachts, und sie hatten großartigen Sex. Beim zweiten Mal nahm er sie mit auf die Premierenfeier des neuen, zuckersüßen und mal wieder durch schicke Brauntöne klug scheinenden Film von Til Schweiger. Er kannte jeden zweiten Gast, sie jeden fünften, und so hatten sie jeder für sich eine Menge Lästereien zum Besten zu geben, Witzchen zu reißen und Champagner zu trinken. Es war nett. Sie waren hübsch. Konstantin hatte ein weißes Hemd und den braunen Leinenanzug an, sie trug das schwarze Kleid, das sie zusammen in einer noch unbekannten Boutique namens Yai in der Bleibtreustraße gekauft hatten. Viel zu teuer, fand sie, aber wozu hatte sie ihre Sonntagszuschläge und ihren Chefreportervertrag in der Polizeiredaktion?
Viel zu gewagt, fand sie auch, und viel zu – aber das durfte sie natürlich niemals aussprechen – viel zu unpraktisch. Kein vernünftiger BH passte darunter, weil eine Schulter freilag!
Aber als sie es anprobierte, nickte Konstantin anerkennend. Inzwischen glaubte sie, dass er es nicht wegen ihrer nackten Schulter tat, sondern weil sie gerade etwas Positives über seine letzte Sendung gesagt hatte.
Trotzdem: Die Premieren-Party war okay gewesen. Doch seitdem hatte er keine Zeit mehr gehabt. »Zu viel Arbeit!«
Viktoria zerdrückte gerade ihre leere Cola-light-Dose. Irgendwie quetschte sie sie in das Netz des Vordersitzes, in das eigentlich gar nichts passte. Das Blech vibrierte leise im Rhythmus des ICE. Sie musste aufstoßen. Scheißkohlensäure, dachte sie und suchte in ihrer Tasche nach der Agenturmeldung. Da war sie. Deshalb war sie hier.
Westbevern (dpa) – Eine 55-jährige Hausfrau aus Westbevern bei Münster stürmte am Freitag schwer bewaffnet die Versammlung eines Schützenvereins. Die zweifache Mutter hatte sich eine Bombenattrappe um den Bauch gebunden und zwei Jagdgewehre geschultert. Bevor sie jedoch um sich feuern konnte, verlor sie das Bewusstsein. Laut Pressemitteilung der örtlichen Polizei wurde sie mit einer Alkoholvergiftung in ein Krankenhaus eingeliefert und danach auf freien Fuß gesetzt. Mögliches Motiv für den Amoklauf: übersteigerte Wut auf den Verein. Dieser wollte der Westfälin nicht erlauben, beim diesjährigen Königsschießen teilzunehmen. Elisabeth U. empfand dies offensichtlich als frauenfeindlich. Hintergrund: Der Schützenverein Westbevern e. V. wurde im Jahr 1780 gegründet und ist damit einer der ältesten Schützenvereine Deutschlands. Bislang gab es nur männliche Schützenkönige.
Der Computerausdruck der Meldung war zerknittert. Mit Kugelschreiber war »Latell« mit ein paar Ausrufezeichen darüber geschrieben. Der Chefredakteur hatte es in dramatisch großen Buchstaben gekritzelt und sie kurz danach in sein Büro gerufen. Er lag in seinem Stuhl, auf dem er sich hin und her drehte, Schuppen sammelten sich auf den Schultern seines schwarzen Jacketts, und sein Blick traf, während er sprach, nicht ein einziges Mal den ihren.
»Das hier ist wieder eine typische Latell-Geschichte, Frau Latell. Da steckt alles drin. Wenn man nur will. Machen Sie mir aus dieser kleinen Meldung eine schöne Provinzposse, ja?!«
Sie starrte auf seinen Zeigefinger. Er fing doch tatsächlich an, damit in der Nase zu bohren.
»Sie wissen schon: Bekloppte Landdeppen streiten sich um noch bekloppteres Schützenfest. Der Streit eskaliert, die brave Hausfrau wird zum Selbstmordattentäter, so was in der Richtung. Aber immer schön sachlich bleiben und dabei zwischen den Zeilen ganz ironisch und zynisch sein und so – aber das können Sie ja …«
Hoffentlich findet er keinen Popel, dachte sie und sagte: »Ja danke. Kann ich. Wann soll es denn losgehen?«
»Na ja, kriegen Sie erst mal raus, wann das nächste
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