Schützenkönig
Haut. Viktoria hatte das Bild von einer Schulfreundin bekommen, die zusammen mit Sarah in einer Foto-AG Porträtfotografieren geübt hatte. Was für ein Glück! So gute Opferfotos gab es wirklich selten. Die Freundin erklärte, dass sich Sarah eigentlich nie so geschminkt hätte wie auf dem Foto, das sei »halt nur zum Üben« gewesen. Viktoria nickte verständnisvoll und griff nach dem Bild. Schneewittchen, dachte sie, das Foto geht auf Seite eins. Sie hatte recht.
Ein anderes Bild zeigte den Tatort. Ein Gebüsch am Müggelsee, in dem Sarahs Mörder die Leiche notdürftig versteckt hatte. Der Fußgängertunnel, der von Friedrichshagen zum größten Berliner See führt, war auch zu sehen. Die Bildunterschrift lautete: »War der Mörder ihr schon hier auf den Fersen?« Wunderbar gruselig, fand Viktorias Chef. Andere Fotos zeigten die Spurensucher der Polizei im Einsatz, das Wohnhaus von Sarah, die mit ihren Eltern im Berliner Bezirk Friedrichshain gelebt hatte. Bilder von den Eltern gab es da noch nicht. Die hatten Viktoria und ihre Kollegen einen Tag später, blass und mit Tränen in den Augen, fotografiert. Viel gesagt hatten sie freilich nicht, sie standen schließlich unter Schock. Viel gefragt hatte Viktoria sie aber auch nicht. Doch das brauchte hier in der Redaktion niemand zu wissen. Neben dem Wohnhaus von Sarahs Eltern war eine Grafik zu sehen. Sie zeigte die seltsame Zeichnung einer hässlichen Ratte. Darunter stand: Lange Zähne, hinterhältiger Blick: So sieht das Wasserzeichen auf dem Brief aus, den Sarahs Mörder am Tatort hinterließ. Ganz Berlin sucht jetzt die feige Ratte!
Der Rattenmörder war die beste Geschichte des Jahres. Und das wusste Viktoria schon am frühen Abend des 1. Januar. Dabei hatte der Tag alles andere als vielversprechend begonnen. Sie hatte zwar frei, war aber trotzdem unausgeschlafen. Die Silvesterfeier hatte sich als lahmer Fondue-Abend mit Konstantins Freunden und deren Freundinnen herausgestellt. Man kannte sich zwar, aber nicht gut genug, um richtig abzufeiern. Um sich überhaupt bis zwölf Uhr wach zu halten, trank Viktoria jede Menge Prosecco. Das war eindeutig der falsche Plan gewesen. Um genau zehn Minuten nach zwölf verabschiedete sie sich betrunken und mit Sodbrennen im allgemeinen Silvester-Wünsche-Gebussel und ging zu Fuß nach Hause. Konstantin hatte nicht einmal so getan, als täte ihm ihr übereilter Abgang leid – und sein »Soll ich dich bringen?« klang so unaufrichtig, dass sie gar nicht darauf antwortete. So lahm der Abend auch war, wenigstens lag die Gastgeberwohnung nur ein paar Hundert Meter von ihrem Dachgeschoss entfernt. Sie starrte geradeaus und hoffte auf ein bisschen Glück. Denn das muss man in einer Silvesternacht in Berlin-Kreuzberg wahrlich haben. Doch alle Querschlägerraketen, Superpolen-Böllerbomber und Gaspistolen-Leuchtgeschosse zischten an ihr vorbei. Als sie im Bett lag, konnte sie nicht einschlafen. Der Prosecco kribbelte noch nach. Sie schlief erst ein, als es draußen bereits hell wurde, und erwachte, als ihre Mutter anrief. »Kannst du mich abholen?« Sie heulte fast. Viktoria fand es erbärmlich. Aber sie setzte sich in ihren Wagen und gabelte Marie Latell in der Lobby vom Westin Grand auf. Marie war blass, betrunken und still. Wenigstens hält sie die Klappe, dachte Viktoria. Schweigend fuhren sie nach Schöneberg, langsam gingen sie die fünfzig Treppenstufen hoch, und ohne jede Zärtlichkeit half Viktoria ihrer Mutter, die Jacke abzulegen. Dann klingelte ihr Handy. Bestimmt Konstantin, dachte Viktoria und nuschelte genervt ins Telefon: »Ja?«
»Entschuldigung. Sind Sie Frau Latell?«
»Ja – und?«
»Äh. Ja, tut mir leid, dass ich störe, aber hier ist eine Leiche.«
Viktoria war plötzlich hellwach – und freundlich.
»Eine Leiche? Wie meinen Sie das? Mit wem spreche ich denn – bitte?«
»Kock. Robert Kock. Sie haben mir mal Ihre Karte gegeben.«
»Mmmh. Ja, ich erinnere mich, glaube ich.« Viktoria hatte keine Ahnung, wer Robert Kock war.
»Sie haben mich mal interviewt. Wegen der Loveparade. Weil ich eine ganze Tüte mit diesen bunten Pillen gefunden habe, die die jungen Leute da immer nehmen.«
»Ja, ja, ich glaube, ich weiß. Sie waren der aufmerksame Herr Kock.« Viktoria war jetzt nicht nach Small Talk zumute. Was ist mit der Leiche?
»Und jetzt haben Sie …«
»Sie liegt vor mir. Soll ich jetzt die Polizei anrufen?« Herr Kock klang etwas kläglich.
»Bleiben Sie ganz ruhig, Herr Kock. Sie haben
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