Schuhwechsel: Als Hausfrau auf dem Jakobsweg
mit
ihr und das möchte ich denn doch möglichst vermeiden. Abgesehen davon weiß ich
ja nicht, wofür die Begegnung mit ihr gut sein könnte.
Nach dem gemeinsamen Abendessen gehen die Pilger für
gewöhnlich ins Bett. Nach 25 – 30 km Fußmarsch, einem opulenten Pilgermenü und
zwei Gläsern Wein, ist die gewöhnliche Pilgerhausfrau müde. Ich zumindest. Nur
heute nicht. Heute Abend fühle ich mich so hell wach, dass ich noch nicht
einmal den Versuch starte, einschlafen zu wollen. Alle anderen Pilger sind
schon im Bett. Nur ich setze mich auf eine steinerne Stufe vor die kleine
Kapelle neben der Bar und tue nichts. Normaler Weise kann ich so etwas kaum
aushalten, aber heute geht es. Ich bin entspannt im Hier und Jetzt und schaue
dem Mond zu, wie er aufgeht.
Aus diesem Nichts im Hier und Jetzt taucht plötzlich Berta
auf und setzt sich zu mir. Sie beginnt selbstverständlich ohne irgendeine
Höflichkeitsfloskel wie z.B. „Störe ich?“ oder „Kann ich mich zu dir setzen?“
mit ihrer üblichen Leier, wie unerträglich dieser Weg sei… bla bla bla.
Ich unterbreche sie einfach und frage sie: „Berta, warum
bist du hier?“ Sie hält kurz inne und schnurrt dann sofort weiter. Ihre Tochter
im Kloster, die diesen Weg vor zwei Jahren schon gegangen sei… bla bla bla. Da
ihr jegliche Höflichkeitsformen fremd zu sein scheinen, entledige ich mich
kurzerhand meiner und spreche sie in sehr lautem, klaren und eindringlichen Ton
an:
„BERTA! Mich interessiert dieser Scheiß nicht, den du allen
und jedem erzählst. Ich will wissen, warum DU diesen Weg gehst. Und jetzt will
ich die Wahrheit hören!“
Berta verstummt. Wow, da hab ich sie wohl erwischt. Ihr
kurzes Schweigen nutze ich und setze etwas liebevoller nach: „Du langweilst die
Menschen mit deinen immer gleichen Geschichten. Erzähle mir die Wahrheit.
Erzähle mir deine Geschichte. Die Geschichte deines Lebens. Erzähle sie mir!
Jetzt.“
Dabei blicke ich ihr tief und fest in die Augen. Berta
schweigt noch immer. Diese Stille neben ihr ist fast schon unheimlich. Dann
beginnt sie zu erzählen. Zu erst stockend. Dann vorsichtig. Aber dann sprudelt
es nur so aus ihr heraus. Zum ersten Mal in ihrem Leben erzählt sie ihre
Geschichte. Die Geschichte eines Opfers, welches schweigen musste, weil sie zu
nah am Täter war.
Berta, die natürlich in Wirklichkeit nicht Berta heißt, war
noch ein Kind als der 2. Weltkrieg zu Ende ging. Ihr Vater war ein bekannter
Nazioffizier und sehr nah mit den obersten Machthabern verbunden. Berta wusste
natürlich nichts von dem wahren Elend des Krieges und der Rolle, die ihr Vater
darin spielte.
Sie war sieben Jahre alt, lebte wohlbehütet auf dem Land, in
einem Teil Deutschlands, der heute nicht mehr Deutschland ist. Sie verkehrte
mit ihren Eltern in den feinsten Kreisen der Gesellschaft und hatte, wie viele
Frauen und Kinder, keine Ahnung von dem, was wirklich draußen abging.
Gegen Ende des Krieges, als die Menschen immer unruhiger
wurden, bekam auch Berta langsam Angst. Sie schnappte immer wieder Wortfetzen
auf, die mit den Russen zu tun hatten und dass sie kommen würden und das es
grauenhaft werden würde.
Eines Nachts, der Vater war plötzlich und unerwartet
zurückgekommen, wurde sie aus dem Schlaf gerissen. Sie musste sich das Wärmste
und Hässlichste anziehen, das sie hatte und mit ihren beiden älteren
Geschwistern auf den hölzernen Wagen klettern. Mitten in der Nacht traten sie
die Flucht nach Dänemark an. Der Vater war abgehauen. Er trug keine Uniform
mehr, sondern die Kleider des Knechtes. Er hatte seinen Bart abrasiert und
seine Haare ganz kurz geschnitten.
Auch die Mutter trug die abgetragene Kleidung der Dienstmagd
und hatte die Haare kürzer. Sie sahen nicht mehr aus wie Herren, sondern wie
Diener.
Berta hatte große Angst. Genau wie ihre beiden Brüder. Aber
niemand traute sich zu fragen, was los ist.
Auf dem Weg nach Dänemark erklärte der Vater nur kurz, dass
sie nun nicht mehr so heißen, wie sie immer hießen und gab ihnen neue Namen.
Mit den neuen Namen kam die knallharte Drohung: Wehe wenn nur einer der
Familienmitglieder sich verplappern würde, würde die ganze Familie sterben.
Mehr Erklärungen bekamen die Kinder nicht. Dafür wurde die
Angst umso größer. Tagsüber versteckten sie sich in Schuppen oder Wäldern und
nachts fuhren sie. Irgendwann stießen sie auf einen Flüchtlingstreck und
schlossen sich diesem an. Von den Kindern traute sich keiner mehr, auch nur ein
Wort zu sprechen. Wenn
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