Schuhwechsel: Als Hausfrau auf dem Jakobsweg
eng. Seit ihr Mann gestorben
war hat sie endlich Zeit für die Familie. Sie wohnt direkt neben ihren Kindern
und Enkelkindern und hilft mit, wo sie kann.
Das Verhältnis mit ihren Kindern ist wunderbar und sie wird
überall mit einbezogen und genießt ihre Rolle. Elke fehlt nichts. Sie ist
glücklich. Wie wertvoll eine aktiv helfende Großmutter sein kann, weiß man
vermutlich erst, wenn man eine hat.
Plötzlich kommt die Oberchristin um die Ecke gebogen. Sie
wohnt ebenfalls in diesem Haus. Nach meinen bisherigen Erfahrungen auf diesem
wundersamen Weg, war es irgendwie völlig klar, dass diese Frau mir noch einmal
begegnen muss.
Alle, aber wirklich alle Menschen, über die ich auf diesem
Weg ein Vorurteil zu fällen hatte, sind mir so lange zu Seite gestellt worden,
bis ich mein Urteil veränderte. Ab sofort werde ich keine Vorurteile mehr
fällen oder über jemanden lästern, den ich nicht kenne. Aus und vorbei.
Endgültig!
Deshalb nenne ich sie nun nicht mehr die Oberchristin, sondern
Berta. Um von Bertas Redeschwall nicht in Beschlag genommen zu werden, greife
ich mir mein Notizbüchlein und beginne scheinbar hochkonzentriert zu schreiben.
Berta schaut sich um, setzt sich wie selbstverständlich neben Elke und beginnt
zu reden. Natürlich höre ich mit einem Ohr mit. Lässt sich ja auch leider nicht
vermeiden.
Berta erzählt das Übliche. Dass sie seit 8 Wochen auf dem
Weg sei, in Jean-Pied-de-Port gestartet wäre und alle schrecklichen Dinge
erlebt habe, die man auf solch einem Weg erleben könne. Sie sei gestürzt und
habe sich die halbe Gesichtshälfte aufgeschlagen, was man an den frischen
Narben immer noch sehr deutlich sehen kann, dann wäre sie überfallen und
ausgeraubt worden. Vor ein paar Tagen habe man ihr auch noch 70 Euro gestohlen.
Jetzt hat sie Probleme mit den Füßen und die Ärzte empfehlen ihr abzubrechen,
was sie auf keinen Fall tun werde. Immerhin ist sie auf Rat des Arztes heute
mit dem Taxi hierher gefahren, denn mit ihren Füßen könne sie gerade nicht
gehen. Aha, das erklärt natürlich einiges. Sie war gestern noch hinter mir und
müsste heute schon sehr schnell gelaufen sein, um vor mir hier zu sein.
Als nächstes erzählt sie von ihrer Tochter die im Kloster
lebe. Auf sie sei sie wirklich sehr stolz. Von ihr erzählt sie etwa eine Stunde
lang. Echt. Ich übertreibe nicht. Sie redet und redet und redet. Elke hat keine
Chance auch nur „piep“ zu sagen. Außerdem wiederholt sich Berta andauernd.
Als sie mit ihrer Tochter fertig ist, erwähnt sie plötzlich
zwei Söhne. Diese sind deutlich schneller abgehandelt und dann erwähnt sie ganz
kurz ihren verstorbenen Mann. Danach kommt ihre Mutter, die früh verstorben ist
und dann fängt sie wieder von vorne an. Der Pilgerweg mit seinen Strapazen und
ihre Tochter im Kloster.
Wahnsinn. Noch nie habe ich so eine Frau erlebt. Ich möchte
zu gerne wissen, was sie wirklich sagen möchte.
Langsam wird es Elke zu viel. Sie entschuldigt sich, steht
auf und geht nach drinnen. Wenn Berta einmal jemand am Haken hat, lässt sie ihn
so schnell nicht mehr los und geht ihr hinterher. Elke muss sich echt für eine
Weile auf das stille Örtchen zurückziehen, um Berta loszuwerden.
Berta bleibt auf der Terrasse sitzen und späht nach dem
nächsten Opfer. Ich gebe mich beschäftigt und ignoriere sie. Sie scheint sehr
einsam zu sein. Aber mit ihrer Art ist das auch kein Wunder. Sie vergrault
jeden. Dann gehe ich duschen. Heute ist mal wieder Haarewaschtag und es dauert
eine ganze lange Weile, bis ich mit dem Kämmen der nassen Haare fertig bin. Mit
einem alten Hotelkamm, bei dem schon zwei Zähne fehlen, dauert das.
Während ich mit meinen Haaren beschäftigt bin, unterhalten
sich meine Lieblingssenioren über die katholische Kirche. Ich sage nichts und
höre zu. Sie sind exakt derselben Meinung wie ich, nur nicht so voller
Emotionen, wie ich das zuweilen bin.
Endlich gibt es Essen. Manchmal ist es schwer, auf das
späte Abendessen zu warten. Da kann es schon mal vorkommen, dass man sich am
Bier satt trinkt. Das Pilgermenü schmeckt mal wieder köstlich und ich helfe
Berta beim Übersetzen der Speisekarte ins Spanische. Berta ist dabei ziemlich
ungehemmt und brüllt einmal quer durch das ganze Lokal.
„He, du da, junge Frau! Sie sprechen doch Spanisch. Kannst
du mir mal bitte die Speisekarte übersetzen?“
Irgendwie muss ich den Fluch von mir lösen. Sie weiterhin zu
ignorieren bringt nichts, denn dann hab ich morgen wieder eine Begegnung
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