Schuhwechsel: Als Hausfrau auf dem Jakobsweg
ein falsches Wort den Tod bedeuten würde, sagten sie
lieber nichts und prägten sich die neuen Namen ein.
Auf der Flucht nach Dänemark bekam Berta zum ersten Mal die
Auswirkungen des Krieges hautnah mit. Es war Winter, es war eiskalt und sie
bekamen nur wenig zu Essen. Ganz anders als zuhause in ihrem Gutshaus, in dem
das Personal dafür sorgte, dass es der Familie an nichts fehlte.
Plötzlich und völlig unvorbereitet, wurden Berta und ihre
Geschwister mit der Realität des Krieges konfrontiert. Mit Kälte, Hunger und
Angst.
Die Angst und die Ungewissheit waren das Schlimmste, sagt
sie. Sie wusste nicht, was plötzlich geschehen war und wie es weitergehen
würde. Von ihren Eltern erfuhr sie nichts. Fragen zu stellen traute sie sich
nicht. Sie sah einige tote Menschen und vor allem Kinder, am Wegesrand liegen.
Der Boden war gefroren, man konnte sie nicht beerdigen. Sie wurden nur
notdürftig mit Schnee bedeckt, den der eisige Wind wieder fortbließ.
Als sie über einen zugefrorenen Fluß gingen, brach ihr
Wagen ein. Sie konnten zwar alle rechtzeitig abspringen, aber ihre Brüder
wurden trotzdem nass. Das Pferd versank mit samt dem Wagen. Sie verloren das
Wenige, was sie noch hatten und gingen zu Fuß weiter.
Bei zweistelligen Minustemperaturen nass zu werden, ohne
eine Aussicht auf etwas Warmes und Trockenes, ist nicht gut. Karl, der schon
immer der zartere der Brüder war, wurde krank. Er bekam sehr hohes Fieber und
kaum mehr Luft. Gehen konnte er auch nicht mehr. Der Vater zog ihn auf einer
notdürftig zusammengebauten Bahre hinter sich her, aber das half nichts mehr.
Karl starb wenige Tage später. Sie mussten seinen toten Körper zurücklassen.
Friedrich, der ältere Bruder, wurde schneller warm und
überlebte. Zumindest die Flucht.
Der Tod von ihrem Bruder Karl setzte Berta ziemlich zu. In
ihrem kindlichen Glauben war sie überzeugt davon, dass Karl irgendjemanden
erzählt hatte, wer sie wirklich waren und deshalb sterben musste.
Nachts hörten sie die Bomben fallen. Manchmal sah man am
Horizont den Lichtschein der brennenden Städte. Tags versteckten sie sich so
gut es ging und hofften, von den Fliegern nicht gesehen zu werden.
Endlich erreichten sie Dänemark. Zusammen mit anderen
Flüchtlingen, kam die Familie in ein Lager. Das Flüchtlingslager war voll,
schmutzig und es gab wieder nur sehr wenig zu Essen. Als Tochter aus gutem
Hause, die Personal, Brüsseler Spitzen und feinstes Meißner Porzellan gewöhnt
war, kam ihr dieses Leben wie ein Alptraum vor, von dem sie hoffte, dass der
Traum demnächst ausgeträumt wäre und sie in ihrem warmen Bett zu Hause erwacht.
Aber sie erwachte nicht in ihrem schönen, sauberen und
warmen Bett, sondern jeden Morgen im Lager.
In diesen Betten gab es Wanzen, die Bertas Beine
anknabberten. Sie trägt heute noch die Narben an den Oberschenkeln.
Der Vater war sehr streng und knallhart. Die Mutter weinte
viel und sprach immer weniger. Vater hatte ihnen verboten, mit anderen zu
sprechen. Es wäre zu gefährlich. „Wenn wir uns verraten würden, würden wir alle
erschossen werden.“
Ungefähr zwei Jahre später, der Krieg war längst vorbei,
wurde die Familie in die Gegend von Hannover verschickt. Sie wurden einem
Bauernhof zugeteilt und mussten kräftig mitarbeiten. Jeden Abend schärfte ihnen
der Vater aufs Neue ein, zu schweigen. Dann beteten sie. Langsam gewöhnte sich
Berta an die neue Identität.
Der Vater und der Bruder arbeiten wie verrückt. Die Bauern
waren nett zu der Familie und so bekamen sie ab und zu ein paar Kartoffeln
extra. Die Mutter half bei der Wäsche und putzte das Haus. Berta ging
vormittags in die Dorfschule. Nachmittags half sie auf dem Bauernhof mit,
passte auf die kleineren Kinder auf oder half bei der Ernte. Sie beteten viel
und gingen jeden Sonntag in die Kirche.
Als Flüchtlingskind, das nicht viel redete, lag sie in der
Beliebtheitsskala ihrer Mitschüler ganz unten und sie hatte keine Freundinnen.
Dem Vater war das recht. Wo keine Freunde, da keine Gefahr, dass sich Berta
verraten würde.
In einem Frühjahr trat Friedrich, ihr älterer Bruder, in
einen rostigen Nagel und starb kurze Zeit später an einer Blutvergiftung.
Die Mutter, wurde nach dem Tod des zweiten Sohnes immer
stiller. Mit dieser Art von Leben kam sie nicht zurecht. Sie war eine höhere
Tochter aus gutem Hause und ein Leben lang gewohnt gewesen, Personal zu haben und nicht zu sein. Da ihre Heimat verloren, ihre Söhne tot, ihre Familie
verlassen und sie
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