Schuhwechsel
Englisch, Jing spricht Portugiesisch, Spanisch und Englisch. Juan und Karl, die beide um die 50 sein dürften, sprechen Portugiesisch und Spanisch. Wir müssen hin- und herübersetzen, damit alle an der Unterhaltung teilhaben können. Was überhaupt kein Problem ist, denn wir sind Pilger und damit alle gleich.
Karl bestellt eine Flasche Rotwein und Mineralwasser für alle. Die Unterhaltung beginnt mit dem klassischen Pilgersatz: „Warum bist du hier?“ Jing, der gut gebaute Jüngling mit vollendeten Manieren, sagt: „ich stehe vor dem Beginn meines Jurastudiums und wollte vorher diesen Weg gehen.“
Juan, sein Vater, sagt: „Ich bin selbstständiger Jurist und arbeite Tag und Nacht. Inzwischen frage ich mich, ob das alles ist, was es in meinem Leben gibt. In meinem Alter hat man nicht mehr ewig Zeit zu leben und nun überlege ich, wie ich meine letzen Jahre gestalten will.“
Heather fragt: „Wie seid ihr auf die Idee gekommen, den Jakobsweg zu wählen?“
Jing antwortet: „In Brasilien ist Paolo Coelho ein berühmter Schriftsteller und nach seinem Buch über den Jakobsweg, sind sehr viele Brasilianer diesen Weg gepilgert. Sein Buch hat auch uns vor Jahren schon inspiriert, diesen Weg zu gehen. Dieses Jahr endlich hat es geklappt.“ Ich frage Karl nach seinen Beweggründen für diesen Weg. „Die selben wie Juan“, antwortet er, „wir sind seit Kindertagen die besten Freunde und machen fast alles gemeinsam.“
Dann ist Heather an der Reihe: „Vor zwei Jahren hat mich ein Auto angefahren und mit dem Geld, dass ich dafür bekommen habe, habe ich mir ein Jahresflugticket gekauft und pilgere nun den Jakobsweg nach Santiago und dann weiter nach Rom und von dort aus nach Jerusalem.“
„Was? So weit?“, ich bin fast sprachlos, „warum, um Gottes Willen, pilgerst du gleich so weit?“, frage ich sie. Auf solch eine Frage kann man ja mit vielen verschiedenen Antworten rechnen, aber mit dem, was diese lebendige, junge Frau mir entgegnet, hätte ich im Leben nicht gerechnet. Sie sagt: „weil ich ein besserer Mensch werden möchte.“
Für einige Sekunden bin ich tatsächlich sprachlos. Dann geht es aber wieder.
„Was, in Gottes Namen, hast du bloß angestellt? Bist du so ein schlechter Mensch, dass du viele tausend Kilometer zu Fuß gehen musst, um besser zu werden? Reichen da nicht ein paar hundert Kilometer?“, frage ich sie und sehe, wie die Brasilianer grinsen.
Heather stottert herum: „Ja… nein…“
Dann fasst sie sich und sagt: „Nein, ich bin kein schlechter Mensch, aber ich liebe es zu reisen. Diese Art des Reisens kostet nicht viel Geld, und ich komme mit dem, was ich habe, sehr weit und lerne viele Menschen kennen. Das gefällt mir.“
„Aha, verstehe“, sage ich und verstehe wirklich.
Das sind immerhin nachvollziehbare Gründe, als tausende von Kilometer zu latschen, um „ein besserer Mensch“ zu werden. Meiner Meinung nach, reicht dazu eine einzige Entscheidung mit anschließender Umsetzung. Dazu braucht man keinen Schritt zu gehen.
Wenn man zuerst einmal herauszufinden möchte, wer man wirklich ist und was man wirklich will, ist man auf diesem Weg sehr gut aufgehoben. So viel Zeit wie hier, verwende ich im Alltag nicht, um über mich und mein Leben nachzudenken. Hier taucht schon hin und wieder eine neue Erkenntnis auf.
Allerdings, wenn auf Erkenntnissen keine Taten folgen, sind diese auch nicht viel wert.
„und ich erfahre sehr viel über mich“, ergänzt sie.
Das stimmt allerdings zu 100%. Dem stimmen auch die Brasilianer geschlossen zu. Man erfährt wirklich sehr viel über sich. Zum Beispiel, dass diese Amerikanerin gar nicht so nervig ist, wie ich das noch vor 30 Minuten dachte, sondern ganz schön was auf sich nimmt, um ihren Frieden mit sich zu finden. Davor habe ich großen Respekt, der aber sehr schnell kleiner wird, als sie anfängt zu lästern:
„Die Deutschen trinken ja morgens um halb elf schon das erste Bier“, entrüstet sie sich, „ich finde das unmöglich! Wie kann man auf diesem heiligen Weg so viel Alkohol trinken?“
„Also erstens bin ich Deutsche und zweitens haben wir das Bier erfunden“, erkläre ich so nebenbei, als ginge es mich nichts an.
„Bier ist ein Energiegetränk und pusht nach einer anstrengenden Strecke den Körper ganz gut hoch. Dann wird es nach einem jahrhunderte alten Jahre alten Reinheitsgebot gebraut und ist damit absolut bio. Außerdem hat Bier relativ wenig Alkohol. Weniger als Wein, jedenfalls.“
Jing pflichtet mir
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