Schuldig wer vergisst
sich, dass zwölf ein besonders schwieriges Alter war.
»Armes Schätzchen«, sagte Morag in liebevollem Ton. »Ihr Gesicht ist noch nicht ganz fertig. Auch wenn man es ihr im Moment noch nicht ansehen mag, aber ich glaube, sie wird mal eine Schönheit. Wie ihre Mutter. Sie hat viel von ihrer Mutter.«
Callie konnte sich nicht vorstellen, dass Alex je wie die glamouröse Frau auf dem Bild aussehen würde. »Wie Jilly?«, platzte sie heraus.
Morag gab ein kehliges Geräusch von sich. »Sie glauben doch nicht etwa, dass Jilly ihre Mutter ist? Jilly ist nur eine angemalte Puppe, aber keine echte Schönheit.«
»Demnach ist Jilly ihre Stiefmutter.« Auch das erklärte eine Menge.
»Ja.« Es schien, als traute sie sich nicht, mehr zu sagen.
»Wieso lebt sie nicht bei ihrer Mutter?« Callie wusste zwar, dass sie das nichts anging, doch das Mädchen, das sie nur von diesem Foto kannte, hatte es ihr irgendwie angetan.
Morag zuckte die Achseln und sah auf die Uhr. »Das ist eine lange Geschichte, meine Liebe. Heute habe ich nicht die Zeit, sie Ihnen zu erzählen – ich hab gleich einen Termin.
Aber wenn Sie noch einmal wiederkommen möchten, sollen Sie alles über Alex erfahren.«
Callie trank ihren Tee aus und wusste bereits, als sie aufstand, dass sie wiederkommen würde.
Die hohen Absätze hallten energisch durch den Krankenhausflur. Frances Cherry, Klinikgeistliche, lauschte einen Moment auf ihre eigenen Schritte, ohne die ältere Frau, aus deren Zimmer sie kam und an deren Bett sie gesessen hatte, auch nur einen Moment zu vergessen. Die Frau war verzweifelt, und nicht nur, weil sie wusste, dass sie sterben musste. »Ich will nicht, dass sie es bekommt«, brachte Irene Godfrey mühsam heraus. »Nicht einen Penny.«
»Sie ist Ihre einzige Angehörige?«
»Sie ist ein Monster! Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen. Sie ist nur gekommen, um sicherzustellen, dass sie mein Haus und mein Geld bekommt.«
Frances hegte keinen Zweifel, dass die Frau damit richtig lag: Das ganze Auftreten der Nichte war alles andere als liebevoll gewesen. Sie hatte frühmorgens von der Klinik einen Anruf bekommen, weil ihre Tante nicht mehr lange zu leben hatte, doch sie war gleich zur Sache gekommen. Sie hatte vorgeschlagen, augenblicklich ihren Anwalt anzurufen und alles schriftlich von ihm aufsetzen zu lassen. Ein ordentliches Testament. »Es geht sowieso alles an mich«, hatte sie gesagt, »aber es wäre viel leichter, wenn wir es rechtzeitig unter Dach und Fach bringen würden.«
Irene Godfrey hatte sich geweigert, und die Nichte war gegangen. Wütende Schritte, die den Flur entlangklapperten.
»Sie hasst Katzen! Seit eh und je«, schluchzte die alte Frau. »Als sie noch klein war und ihre Mum sie einmal zu Besuch mitbrachte, hat sie Snowball getreten! Ich hab sie einmal dabei erwischt. Wie kann man so grausam sein? Snowball war ein wehrloses Tier.«
»Und jetzt glauben Sie …«
»Ich glaube, sobald ich nicht mehr bin, wird sie Fluffy und George einschläfern lassen. Das lasse ich nicht zu.« Sie drückte Frances’ Hand mit erstaunlicher Kraft.
»Aber wer …?«
»Meine Freundin Maisie. Die würde sich um die beiden kümmern«, sagte die Frau. »Sie liebt die Tiere. Ich weiß, dass ich ihr vertrauen kann.« Mühsam setzte sie sich aufrecht hin. »Ich muss mein Testament machen«, sagte sie bestimmt. »Und zwar sofort, bevor es zu spät ist.«
Frances glaubte ihr. Sie glaubte auch, dass die Nichte nichts unversucht lassen würde, es anzufechten, wenn es nicht korrekt und mit aller Sorgfalt aufgesetzt wurde.
»Haben Sie einen Anwalt?«, fragte sie.
»Nein. Ich hab auch noch nie einen gebraucht.« Der Frau standen die Tränen in den Augen. »Können Sie nicht einen für mich finden? Jetzt?«
Auf dem Nachttisch stand eine Uhr, auch wenn Frances nicht wusste, warum. Die Zeit hatte für Irene Godfrey jegliche Bedeutung verloren. Eine Sanduhr, musste sie unwillkürlich denken, wäre passender gewesen. Frances stellte fest, dass es noch früh am Morgen war, gerade erst sechs. Noch vollkommen dunkel draußen. Kein Anwalt, der etwas auf sich hielt, wäre um diese Zeit schon aus den Federn und erst recht nicht willens, mit jemandem zu telefonieren, dem er noch nie zuvor begegnet war.
Andererseits wusste sie nicht, wie viel Zeit sie noch hatten. Wie lange konnte sie es sich leisten zu warten?
Sie streichelte Irene Godfreys Hand und betete still. Die Antwort kam fast im selben Moment. »Triona«, dachte Frances
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