Schuldig wer vergisst
Dämmerung auf die Uhr sah. Gerade mal kurz nach drei, und schon war es in der Küche dunkel genug, um Licht anknipsen zu müssen. Yolanda hatte den größten Teil ihres Lebens in London verbracht, doch an die grausam kurzen Tage des britischen Winters hatte sie sich nie gewöhnen können.
Sie konnte jetzt selbst eine Tasse Tee gebrauchen. Sie nahm die Kanne vom Abtropfbrett, steckte ein paar Teebeutel hinein und holte die Milch aus dem Kühlschrank.
Rachel mochte ihren Tee schwach, und so goss Yolanda ihr eine Tasse ein, während sie den restlichen Tee in der Kanne nach ihrem eigenen Geschmack länger ziehen ließ. Vorsichtig trug sie die Tasse nach oben. »So, da wären wir,
Schätzchen«, sagte sie und stellte den Tee auf den Nachttisch.
»Das ist lieb.« Rachel lächelte sie dankbar an.
Yolanda ging wieder nach unten und goss sich selber einen Henkelbecher ein. Heiß und stark – genau das, was sie brauchte. Sie nippte genüsslich daran, während sie die Gardinen zuzog, ein paar weitere Lampen einschaltete und überlegte, wie sie jetzt vorgehen sollte.
Das Dringlichste war, etwas mit Trevors DNA in die Finger zu bekommen. Und wie Neville Stewart betont hatte, musste es geschehen, ohne bei Rachel Verdacht zu erregen. Das war vielleicht gar nicht so einfach: Solange Rachel im Schlafzimmer war, kam sie nicht so ohne Weiteres in das angrenzende Badezimmer, wo sie am ehesten Trevors Zahnbürste finden würde. Und woher sollte sie überhaupt wissen, welche seine war?
Sie hatte den Beutel für das Beweisstück in der Tasche; Sid Cowley wartete auf ihren Anruf. Sie musste etwas unternehmen, und zwar bald.
Alex trödelte auf ihrem Heimweg nicht herum. Abgesehen davon, dass es zu kalt war, um irgendwo herumzuhängen, hatte sie es auch eilig, nach Hause zu kommen. In Mathe, der letzten Stunde an diesem Tag, hatte sie, statt dem langweiligen Lehrer zuzuhören, einen Schlachtplan entwickelt, was sie tun konnte, um ihre Mum zu finden. Es hing alles davon ab, ob sie es schaffte, am Telefon wie eine Erwachsene zu klingen.
Während sie die Treppe zur Wohnung hochging, übte sie schon einmal, indem sie ihre Stimme senkte und bedächtig sprach. »Guten Tag«, sagte sie und drehte den Schlüssel in der Tür um. Es klang kein bisschen überzeugend, stellte sie fest, während sie wie gewohnt ihre Tasche in die Diele warf. Dann musste sie es eben so lange versuchen, bis es funktionierte.
»Ich bin zu Hause«, rief sie in ihrem normalen Ton, nicht so sehr zur Begrüßung, als viel mehr, um herauszufinden, ob jemand da war.
Gott sei Dank keine Antwort. Das hieß, Jilly war nicht da, und Alex hatte die Wohnung für sich.
Heute hielt sie sich nicht mit Essen auf, sondern schnappte sich gleich das schnurlose Telefon, bevor sie in ihr Zimmer und an den Computer ging. Nachdem sie ihr Passwort eingegeben hatte, öffnete sie die Liste mit den entsprechenden Privatkliniken und Betreuungseinrichtungen, die sie zusammengestellt hatte.
Fang vorne an, sagte sich Alex. Sie tippte die Nummer einer Einrichtung in Jedburgh ein.
»Hellooo«, meldete sich eine Frau nach drei Klingelzeichen, und beinahe wäre ihr ganzes Vorhaben daran gescheitert, dass sie beim vertrauten Klang des schottischen Akzents eine Woge der Sehnsucht überkam. Sie packte das Telefon fester und schluckte schwer.
»Hellooo?«, wiederholte die Frau.
Alex erholte sich und senkte das Kinn, was ihr zumindest psychologisch dabei half, mit einer einigermaßen tiefen Stimme zu sprechen. »Guten Tag«, sagte sie. »Wäre es wohl möglich, mit einer Ihrer … ehm … Bewohnerinnen zu sprechen?« Nannte man sie Bewohner oder Patienten?, fragte sich Alex. Und fügte hinzu: »Mrs Harriet Hamilton.«
»Mit dem Namen haben wir hier niemanden«, lautete die Antwort. »Tut mir leid.«
»Oh. Dann entschuldigen Sie bitte die Störung.«
Nun ja, sagte sich Alex weise, sie konnte nicht erwarten, schon beim allerersten Versuch Erfolg zu haben. Immerhin hatte die Frau sie nicht gleich als Hochstaplerin entlarvt. Sie wandte sich der zweiten Adresse auf ihrer Liste zu.
Für Neville hatte sich schlagartig alles verändert. Dieser Fall, der ihm von Anfang an knochentrocken und langweilig erschienen war, wurde auf einmal interessant. Völlig auf den Kopf gestellt.
Nicht nur irgendein Gelegenheitsverbrechen also, sondern eine raffiniert geplante und ausgeführte Tat.
Er saß noch lange, nachdem Yolanda gegangen war, an seinem Schreibtisch und ging sämtliche denkbaren Möglichkeiten
Weitere Kostenlose Bücher