Schuldlos ohne Schuld
überraschend eines Abends. »Du wirst dabei nicht draufzahlen.«
War das nach einer oder zwei Wochen Bekanntschaft? Seit der ersten Begegnung hatten sie sich jeden Abend getroffen, immer am selben Ort und ohne dass sie sich abgesprochen hatten. Martin war immer als erster gekommen. Manchmal musste er mehrere Stunden warten, doch niemals vergebens.
Es war etwas Bedeutungsvolles geschehen. Martin hatte jemanden zum Reden. Er hatte plötzlich einen Freund. Sie saßen gewöhnlich jeder für sich in der Ecke, die alle anderen meist zuletzt wählten, und sie bekamen nie Gesellschaft von jemand anderem. Dennoch war etwas Großes geschehen. Obwohl sie in Frieden gelassen wurden, waren Martin und Kalle ein Teil der Gemeinschaft geworden.
»Was willst du loswerden? Diebesgut?«
»Vielleicht.«
Kalles Augen blitzten auf, als hätte ihn ein Inspektor dort oben in Nordfinnland zur Rede gestellt. Dann wurde sein Blick wieder wärmer, der wachsame Glanz wich aber nicht daraus.
Martin richtete sich auf. Er fühlte sich verlegen. Eigentlich hatte er nur einen Spaß machen wollen.
»Verzeih«, sagte er unsicher. »Ich weiß, dass du ein ehrlicher Mensch bist.«
Danach schwiegen sie mehrere Minuten, und Martin begriff langsam, worauf Kalle wartete. Die Frage hing in der Luft, sie musste beantwortet werden. Freunde sind füreinander da, besonders wenn der eine Hilfe benötigt.
»Wieviel brauchst du?«, fragte Martin.
»Dreitausendfünfhundert.«
Die Antwort kam fast gleichgültig. Dreitausendfünfhundert Kronen. Eine hohe Geldsumme. Was Martin betraf, die Ersparnisse mehrerer Jahre und fast alles, was er auf seinem Bankkonto hatte. Die letzte Reserve. Die Sicherheit. Aber was hatte Geld auf der Bank für einen Wert, wenn du es besitzt auf Kosten eines verlorenen Freundes?
»Du sagst, dass ich bei dem Geschäft nicht verlieren kann?«
»Im Gegenteil. Es ist der beste Kauf, den du je gemacht hast. Ich kann dir etwas verkaufen, was du noch nie vorher besessen hast.«
»Was denn?«
Kalle ließ sich Zeit mit der Antwort. Er blickte listig. Wie das Kind der Wildnis, das er trotz allem geblieben war.
»Macht«, antwortete er dann, und es lagen Festigkeit und zugleich Ironie in seinem Blick.
Martin saß stumm da.
»Hat dir nicht Macht gefehlt?«
Es war ein verblüffendes Angebot. Martin begriff noch nicht. Er war nicht ohne Phantasie, hatte aber Schwierigkeiten, die Phantasie mit der Wirklichkeit zu verbinden. Vielleicht war dies auch ein Zeichen von Beschränktheit. Dem Unterdrückten fehlt fast immer die Fähigkeit, sich vorzustellen, was sich jenseits der Schranke befindet, die er nie überwinden würde. Er vermag von der Freiheit zu träumen, braucht aber von außen Hilfe, um erkennen zu können, wie man sie erobern soll.
»Macht«, wiederholte Martin.
Er sah verlegen aus und lächelte wie ein Kind, wenn es nicht sicher ist, ob es sich auf das Wort der Erwachsenen verlassen kann.
»Du weißt, dass ich immer machtlos gewesen bin.«
»Das wird sich morgen ändern.«
Viel mehr wurde an jenem Abend darüber nicht mehr gesprochen. Kalle war ungewöhnlich schweigsam und wortkarg. Martin vermutete, dass dies mit seinen Geldschwierigkeiten zu tun hatte. Die nächsten Stunden saß jeder allein mit seinen Gedanken. Manchmal sahen sie sich an und lächelten. Schweigen war nicht, was sie trennte. Wie so oft kann es enge Freunde miteinander verbinden.
Sie gingen früher als sonst auseinander und schüttelten sich sogar die Hand. Sie wohnten in verschiedenen Gegenden, deshalb trennten sich ihre Wege vor der Kneipe.
»Ich werde das Geld mitbringen«, sagte Martin.
Schnaps und Bier standen auf dem Tisch, als Martin am nächsten Tag direkt nach der Arbeit in die Kneipe kam. Es war hektisch zugegangen, und er musste sein Mittagessen ausfallen lassen, um zur Bank gehen zu können.
Kalle winkte ihm fröhlich vom Ecktisch zu. Seine Verschlossenheit vom Abend zuvor war einer gewissen Redseligkeit gewichen. Es war Dienstagnachmittag, und es befanden sich nur einige wenige Gäste im Lokal.
»Ich lade dich ein«, feixte Kalle. »So ist es üblich bei Geschäften.«
Martin lächelte mit dem ganzen Körper zurück. Aus der Ferne konnte man ihn für einen richtigen Gentleman halten. Er trug seinen besten Anzug, und es lag eine neugewonnene Sicherheit in seinen Bewegungen. Irgendwie wirkte er nicht mehr so schüchtern und ungehobelt wie sonst. Aus mehreren Gründen fühlte er sich über die Maßen zufrieden mit sich selbst. In der Bank
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