Schuldlos ohne Schuld
einmischen, was er sieht? Er, der von sich selbst sagt, dass er nichts anderes sei als ein Beobachter und dass es seine Aufgabe sei, zu beschreiben und zu verstehen, nicht aber in die Handlung einzugreifen. Bevor er eine Antwort findet, hat Martin das Restaurant verlassen, und der Stewart steht wieder am Tisch.
»Die Rechnung«, sagt er und deutet auf den leeren Stuhl vor dem Fremden.
Er bekommt einen erzürnten Blick zur Antwort.
»Hier«, sagt der Fremde wütend und holt eine Kreditkarte aus der Brieftasche.
»Ich zahle alles zusammen.«
Dann verlässt er den Speisesaal ebenso schnell wie Martin, und niemand begreift, was geschehen ist. Für kurze Zeit wird etwas lauter als vorher an den Tischen geplappert. Dann geht alles wieder seinen gewohnten Gang. Letzten Endes gibt es doch nichts, was interessanter sein kann, als das, was einen selbst betrifft.
Es wimmelt von Menschen auf den Gängen und Treppen. Das Schiff schwankt jetzt wieder, und die meisten haben Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Zusammenstöße sind nicht zu vermeiden. Alle nehmen es mit Humor und versuchen lachend auszuweichen und sich an den Geländern festzuhalten. Nur Martin trennt sich von der Masse der lebensfrohen Passagiere. Er bahnt sich seinen Weg, ohne auf Erwachsene oder Kinder Rücksicht zu nehmen. Nichts und niemand kann ihn jetzt noch hindern. Die Leute, die seine Stöße abbekommen, werfen ihm wütende Blicke nach, einige wenden sich auch ängstlich ab. Martin bewegt sich die ganze Zeit nach oben, und zuletzt hat er die höchste Ebene des Schiffs erreicht, das Bootsdeck. Er ist allein. Wegen des Seegangs ist es verboten, sich hier aufzuhalten. Allzu viele Menschen sind auf diesen Seereisen spurlos verschwunden. Die Treppen zum Bootsdeck sind mit Verbotsschildern versehen, aber niemand überwacht das Verbot, und es ist für Martin ein leichtes, die Sperren zu überwinden.
Der Wind hat wieder zugenommen, und Wasser spritzt in Martins Gesicht. Es könnten Tränen sein. Einige Augenblicke steht er still und sieht sich um. Er ist vollkommen ruhig und fühlt keine Spannung, auch keine Angst. Unter sich erkennt er die Bugwelle und den Schaum, der in dem Lichtstreifen rund um die Fähre badet. Das einzige Geräusch, das er wahrnimmt, ist der Lärm der Taue und Ketten, in den sich das hohle Heulen des Windes mischt.
Die Rettungsboote sind ordentlich vertäut und abgesperrt. Weit entfernt blinkt ein Licht, vielleicht von einem Leuchtturm oder einer Boje. Martin kriecht unter der Absperrung durch und drückt sich an den Bootssteven entlang nach vorn. Mit einer Hand hält er sich an den Tauenden fest, mit der anderen zieht er den Revolver aus dem Hosenbund. Ein letztes Mal wendet er sich um, und für einen kurzen Augenblick glaubt er dort an der Treppe den Fremden erkennen zu können. Das Schiff neigt sich auf Martins Seite. Da steckt er die Revolvermündung in den Mund und drückt ab.
Das Krachen des Schusses wie auch der Aufprall des Bündels und des Revolvers auf dem Wasser sind sofort vom Rauschen der Wellen verschluckt. Nichts Besonderes ist geschehen. Ein Mensch ist verschwunden, aber niemand wird ihn vermissen. Eine Mordwaffe ist weg, und sie wird nie gefunden werden. Eine Erzählung ist zu Ende, und der Erzähler begibt sich mühsam die Treppe vom Bootsdeck hinunter. Er kehrt in das Restaurant zurück, wo ein Bekannter ihn zu sich winkt.
»Du siehst ja ganz verstört aus.«
»Das muss der Wind sein. Ich glaube, dass es wieder auffrischt.«
»Wohin ist deine Begleitung gegangen?«
»Begleitung? Du meinst den Mann, den ich gesehen und mit dem ich mich unterhalten habe? Ich glaube nicht, dass ich ihn wiedersehen werde. Ich habe nur einige Male mit ihm gesprochen, und ich bin mir nicht sicher, dass es mir gelungen ist, ihn zu verstehen.«
NACHWORT DES HERAUSGEBERS
Kjell-Olof Bornemark (1924 – 2006) war vermutlich der älteste Debütant in der Geschichte der schwedischen Kriminalliteratur. 1982, im Alter von 58 Jahren, veröffentlichte er seinen ersten Roman »Legat till en trolös« und wurde dafür mit dem Debütpreis der Schwedischen Krimi-Akademie (Svenska deckarakademin) belohnt. Der Spionagethriller um einen abtrünnigen Kommunisten wurde mit den Werken John le Carrés verglichen. Der Rezensent von Aktuellt i politiken beispielsweise attestierte ihm »dieselbe gespaltene Moral und denselben müden Zynismus«. Mit »Skiljelinjen« (1983), »Förgiftat område« und »Handgången man« (1986) legte
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