Schuldlos ohne Schuld
unter den starr blickenden Augen.
Der Ungar, der gewohnt ist, in den Gesichtern der Menschen zu lesen, merkt sofort, dass etwas nicht stimmt. Er kennt verzweifelte Menschen und weiß, dass sie sich wie hinter einer Schutzmauer bewegen, die zu durchbrechen man sich hüten muss. Jedem Versuch eines Kontakts wird mit empfindlicher Reizbarkeit begegnet, und bei Unvorsichtigkeit besteht immer ein Risiko, dass die Angst hervorquellen und in hemmungslose Gewalt umschlagen kann.
Deshalb nickt der Ungar Martin nur höflich zu und wartet ruhig seine Bestellung ab. Auch der Taxifahrer weicht einige Schritte zur Seite. Es liegt in der Luft, dass es jemandem, der sich nicht in Acht nimmt, schlecht ergehen kann.
Martin bekommt seinen Hamburger und entscheidet sich für einen Ecktisch am Ende des Lokals. Er sinkt auf einen Stuhl nieder. Gleichzeitig wendet er allen Leuten den Rücken zu, als wollte er zeigen, dass er nichts mit der Umgebung zu tun haben möchte. Es liegt nichts Außergewöhnliches in seinem Verhalten, jedenfalls nicht hier, wo sich niemand um den anderen kümmert. Es gibt keinen Grund, warum man jemanden nicht respektieren sollte, der allein zu bleiben wünscht. Es erstaunt auch niemanden, dass Martin während des Kauens vor sich hinbrummt. Die Leute, die hierher kommen, haben ihre Eigenarten, und so lange sie keinen größeren Lärm machen, muss man sie tolerieren.
Martin hatte Schwierigkeiten erwartet, als er am Vormittag gegenüber dem Spatz und Leonard andeutete, dass es Zeit für sie sei, sich einen anderen Übernachtungsplatz zu suchen, und das sehr schnell. Alles löste sich auf eine viel einfachere Weise, als Martin sich hatte vorstellen können. Er brachte die Angelegenheit fast sofort zur Sprache, nachdem der Hausverwalter und die Nachbarin ihre Wohnungsbesichtigung abgeschlossen hatten.
Der Spatz hört sich geduldig und nachdenklich Martins Ausführungen an. Dann breitete sich ein zufriedener Ausdruck auf seinem Gesicht aus, und er unternahm keinen Versuch, diesen zu verbergen. Es kamen auch keine Einwände von Leonard. Es schien fast so, als ob beide erleichtert gewesen wären.
»Ja, ja«, entgegnete der Spatz fast verlegen. »Es ist doch das Beste, wenn wir verschwinden.«
Martin kratzte sich am Kinn, und er war offensichtlich erstaunt.
»Die Sache ist die«, fügt der Spatz vertraulich hinzu, als wolle er ein Geheimnis enthüllen, »dass Leonard und ich heute mit einem Freund verabredet sind. Wir können dort schlafen. Er hat viel Platz.«
Der Spatz drehte sich zu Leonard um, als bräuchte er dessen Bestätigung; es dauerte einige Sekunden, bis Leonard den Wink verstand.
»Natürlich war es heute«, nickte er eifrig. »Da bin ich mir ganz sicher.«
Dann wurde es still. Es war höchst zweifelhaft, das Leonard wissen konnte, bei welchem Wochentag sie angelangt waren. Das dachte Martin jedenfalls. Deshalb antwortete er nichts, und wie so oft verursachte das Schweigen ein Missverständnis.
Der Spatz fühlte sich veranlasst eine Erklärung abzugeben.
»Du sollst nicht verlegen sein«, begann er feierlich und versuchte Martins Blick mit unsicheren Augen zu begegnen, die sich bemühten, aufrichtig zu wirken.
»Du hast wirklich etwas für uns getan, und es ist selbstverständlich, dass du dich immer an uns wenden kannst.«
»So ist es«, bestätigte Leonard.
Alle drei wussten, dass alles, was jetzt gerade gesagt wurde, Lüge war, aber manchmal ist es leichter, die Lüge auszuhalten als die Wahrheit. Es war dem Spatz und Leonard wichtig, eine akzeptable Entschuldigung zu finden, um nicht anwesend zu sein, wenn das Wiesel am nächsten Tag kam, um seine Forderungen einzutreiben. Daher ihre Bereitwilligkeit, Martin entgegenzukommen und sogar wahrheitswidrig zu behaupten, sie hätten keine Probleme mit der Übernachtung. Sie waren sich der körperlichen Risiken bewusst, denen sie ausgesetzt sein könnten, wenn Martin aus irgendeinem Grund die ganze versoffene Schuldsumme nicht aufbringen konnte oder wollte. In gewisser Hinsicht waren sie trotz allem Bürgen bei der ganzen Abmachung mit dem Wiesel, und dessen Auftraggeber zögerte nicht, die brutalsten Strafmaßnahmen anzuwenden, wenn jemand sich nicht an die Vereinbarung hielt.
Die Handlungsweise von Leonard und dem Spatz beweist auch in gewisser Hinsicht, dass Intuition weder auf Nüchternheit noch auf Verstandesgaben beruht. Die Vorahnungen einer Gefahr, die beide hegten, waren völlig berechtigt. Sie fühlten, dass es das sicherste für sie
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