Schule für höhere Töchter
Junge? Kennen Sie ihn?«
»Nein. Überhaupt nicht. Ich weiß nur, daß die Familie recht ungewöhnlich ist. Angelicas Vater fiel 1953 kurz vor ihrer Geburt in Korea; seitdem leben beide bei ihrem Großvater und werden von der Mutter erzogen, die…« Miss Tyringham schob, ganz die verschwiegene Direktorin, ein paar Papiere auf ihrem Schreibtisch hin und her, »nun, sagen wir, eine schwierige Frau ist, leicht erregbar, egozentrisch und mit etwas leichtfertigen Neigungen. Nicht gerade der Inbegriff einer glücklichen Familie, und ich glaube, da liegt eines der Probleme. Natürlich wäre es uns lieber gewesen, Angelica hätte die Schule nicht so unmittelbar mit hineingezogen, aber ohne Frage sind wir involviert. Das war nun eine sehr weitschweifige Einleitung. Ich bitte um Entschuldigung. Glauben Sie, daß Angelica… nun, einen ausreichend kühlen Kopf behalten kann, wenn es hart auf hart kommt?«
»Ich weiß nicht. Es hat keinen Zweck zu behaupten, ich wüßte das. Ich habe nicht die geringste Ahnung. Im Seminar hat sie gut mitgearbeitet, alle haben das, aber… tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«
»Im Gegenteil. Gerade weil Sie sich nicht sicher sind, meinen Julia und ich, daß Sie vielleicht mehr ausrichten können als Mrs. Banister. Natürlich steht Mrs. Banisters Einsatz für Angelica in den letzten Jahren außer Frage, und natürlich mußten wir sie rufen, als das Theater losging.«
»Gut«, sagte Kate, stand auf und versuchte, die erschöpfte Frau vor sich nicht anzusehen. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Beim Verlassen des Büros schien es Kate, als hätte sich Miss Tyringham etwas Bestimmtes erhofft, als sie sie rief – aber Kate wußte nicht, was; wahrscheinlich wußte es Miss Tyringham selbst nicht.
Und auch Angelica nicht, wie sich bald herausstellen sollte. Sie lag apathisch auf der Liege im Krankenzimmer; physische und psychische Erschöpfung hatten sie überwältigt. Dennoch schien sie bis zu Kates Erscheinen gegen den Schlaf gekämpft zu haben. Mrs. Banister begrüßte Kate mit einem Kopfnicken und verließ auf Zehenspitzen den Raum.
»Danke«, sagte Angelica schwach.
Kate setzte sich auf einen Stuhl neben der Liege. Angelica bewegte eine Hand in Kates Richtung, berührte sie aber nicht; dann schloß sie die Augen, als hätte ein Kampf sein Ende gefunden. Seltsam, dachte Kate, ein-oder zweimal in unserem Leben kann unsere Gegenwart, allein unsere Gegenwart, Frieden bringen, aber wir wissen nie vorher, wann das sein wird.
Während sie so dasaß, spürte Kate, daß ihre Stimme vielleicht beruhigend wirken könnte. Gedanken über Antigone und Angelica wirbelten ihr durch den Kopf, wollten sich aber nicht in Worte fassen lassen.
»Falsch?« sagte Angelica. »War’s falsch, das zu tun?«
Und dann dachte Kate plötzlich an Thornton Wilders ›Die Frau aus Andros‹ – warum, wußte sie nicht. Nun, schließlich war es ein Buch über die Griechen. »Nicht falsch«, sagte Kate. »Die Fehler, die wir aus Großzügigkeit machen, sind weniger schrecklich als die Vorteile, die wir durch Vorsicht erlangen.«
Angelica lächelte und schlief ein. Kate beobachtete, wie die Anspannung aus ihrem Gesicht wich. Als kurz darauf der Arzt kam, ging Kate zurück zu Miss Tyringhams Büro, den Kopf voller Fragen über Angelicas Bruder. Flüchtig dachte Kate an die griechischen Götter und fröstelte.
Kapitel Sechs
A ls Kate nach Hause kam, fand sie Reed fast völlig vergraben unter hohen Stapeln von Papieren, die er, wie er sagte, ordnen wollte. Es sah aber eher aus, als baute er sich ein Nest, um darin Winterschlaf zu halten.
»Andere Leute«, sagte Kate und ließ sich in einen Sessel fallen, »nehmen sich dafür einen Buchhalter oder Steuerberater oder, wenn es gar nicht anders geht, einen Bruder, wie ich es tue.«
»Das habe ich mir auch überlegt«, sagte Reed und begutachtete, sichtlich erstaunt, eine Quittung. »Also, wieso habe ich geglaubt, ich könnte das von der Steuer absetzen?« grübelte er und legte das Stück Papier von dem einen Stoß auf einen anderen. »Ich bin sogar so weit gegangen, einen Steuerberater zu befragen, der den Ruf hat, seinen Klienten mehr Steuern zu sparen, als seine Rechnung nachher ausmacht. Aber dann habe ich gemerkt, daß ich ihm das ganze Zeug zusammenstellen muß, und das ist ohnehin die schlimmste Arbeit dabei; und wenn dann diese Finanzcomputer meinen Steuerbescheid auf ihre unfair-willkürliche Weise ausgespuckt haben, müßte ich trotzdem noch
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