Schutzlos: Thriller (German Edition)
rotes Haar und bin nicht sehr groß. Und so verbrachten sie im Büro offenbar ein, zwei Stunden bei einem improvisierten Casting, um den koboldähnlichsten Mitarbeiter zu finden, der mich darstellen sollte.
»Status?«, fragte ich ins Telefon.
»Er hat die Spur gewechselt und beschleunigt ein wenig.«
Es gefiel ihm wohl nicht, dass er mich nicht mehr sah.
»Warte …«, hörte ich. »Warte …«
Ich würde meinen Protegé daran erinnern müssen, auf unnötige Kommunikation zu verzichten; zwar wurden unsere Worte von einer Sprachsoftware zerhackt, aber die Tatsache, dass ein Gespräch stattgefunden hatte, konnte entdeckt werden. Er würde die Lektion schnell lernen und behalten.
»Ich komme zur Ausfahrt. Okay … und tschüs.«
Mit immer noch gut neunzig Stundenkilometern wechselte ich auf die Ausfahrtspur und bog um die Kurve, die dicht von Bäumen gesäumt war. Der Geflügellaster klebte an meiner Stoßstange.
»Gut«, berichtete mein Ziehsohn. »Subjekt hat nicht einmal in eure Richtung geschaut. Er hat das Double in Sicht und geht wieder auf das Tempolimit zurück.«
Ich hielt an der roten Ampel, wo die Ausfahrt in die Route 18 mündet, und bog dann rechts ab. Der Geflügellaster nahm die andere Richtung.
»Subjekt setzt seine Fahrt fort«, meldete sich die Stimme meines Ziehsohns. »Scheint alles gut zu klappen.« Seine Stimme war ruhig und gelassen. Ich bin selbst ziemlich distanziert bei Operationen, aber er übertrifft mich noch. Er lächelt selten und
scherzt nie, und in Wahrheit weiß ich kaum etwas über ihn, obwohl wir seit mehreren Jahren teilweise sehr eng zusammenarbeiten. Ich würde dieses Düstere an ihm gern ändern; nicht wegen des Jobs – da ist er wirklich sehr, sehr gut –, sondern einfach, weil ich wünschte, er hätte mehr Freude bei unserer Arbeit. Die Aufgabe, Menschen zu schützen, kann sehr befriedigend sein, sogar Spaß machen. Vor allem, wenn es um den Schutz von Familien geht, wie es häufig der Fall ist.
Ich wies ihn an, mich auf dem Laufenden zu halten, und wir trennten die Verbindung.
»Dann sind wir also sicher?«, fragte Alissa.
»Wir sind sicher«, antwortete ich und beschleunigte auf achtzig, wo siebzig erlaubt war. Fünfzehn Minuten später näherten wir uns über Umwege den Außenbezirken von Raleigh, wo wir den Staatsanwalt wegen der eidlichen Aussagen treffen würden.
Der Himmel war bewölkt, und die Gegend ringsum sah wahrscheinlich seit Jahrzehnten gleich aus: Bauernhäuser im Bungalowstil, Scheunen, Anhänger und Motorfahrzeuge im Endstadium, die aber immer noch funktionierten, wenn man sie richtig pflegte und dazu noch etwas Glück hatte. Eine Tankstelle bot eine Benzinmarke an, von der ich noch nie gehört hatte. Hunde bissen träge nach Flöhen in ihrem Fell. Frauen in straff sitzenden Jeans beaufsichtigten ihren Nachwuchs. Männer mit bierschlanken Gesichtern und ausladenden Bäuchen saßen auf Veranden und warteten auf nichts. Wahrscheinlich wunderten sie sich über unseren Wagen – mit Insassen, wie man sie in dieser Gegend nicht häufig sah: einem Mann im dunklen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte und eine Frau mit Kurzhaarschnitt.
Dann ließen wir die Wohnhäuser hinter uns und fuhren auf einer Straße, die weitere Felder zerschnitt. Ich bemerkte die Baumwollpflanzen mit ihrem an Popcorn erinnernden Bewuchs, und ich dachte daran, dass dieses Land vor hundertfünfzig Jahren
von genau derselben Frucht bedeckt gewesen war; der Bürgerkrieg und die Menschen, für die man ihn ausgetragen hatte, waren im Süden nie weit entfernt.
Mein Telefon läutete, und ich meldete mich.
Die Stimme meines Ziehsohns klang dringlich. »Abe.«
»Hat er den Highway verlassen?«, fragte ich angespannt. Ich war nicht allzu besorgt; wir waren vor mehr als einer halben Stunde abgebogen. Der Killer war inzwischen wohl an die vierzig Meilen entfernt.
»Nein, er folgt immer noch dem Double. Aber gerade ist etwas passiert. Er hat einen Anruf von seinem Handy gemacht. Als er auflegte, hat er sich so merkwürdig übers Gesicht gewischt. Ich bin auf zwei Wagenlängen herangefahren. Es sah aus, als würde er weinen.«
Mein Atem ging schnell, als ich überlegte, welche Gründe es dafür geben konnte. Schließlich zeichnete sich ein plausibles und beunruhigendes Szenario ab: Was, wenn der Killer vorausgeahnt hatte, dass wir ein Double einsetzen würden, und seinerseits ebenfalls eins benutzt hatte? Er hatte jemanden, der ihm ähnlich sah, gezwungen, uns zu folgen – so
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